Die Schweizer Skirennfahrerin Michelle Gisin liegt unten an der Trainingspiste. Sie ist nicht gestürzt. Sie hat die Mens. Und die Bauchkrämpfe sind so stark, dass nichts mehr geht. Michelle Gisin hat sich schon vorher müde gefühlt, sich aber gesagt: «Dann muss ich mich heute besonders anstrengen.» Was hat es gebracht? Nichts. Nur noch mehr Schmerz.
Jahrelang hat Olympiasiegerin Michelle Gisin ihren Zyklus ignoriert. Heute weiss sie: Ihr Zyklus hat einen Einfluss auf ihre Leistungsfähigkeit als Spitzensportlerin. Darum trainiert Michelle Gisin nicht mehr gegen ihren Körper, sondern mit ihm.
Viel in Bewegung
Das Thema «Menstruationszyklus» ist mittlerweile auch im internationalen Leistungssport angekommen. Immer mehr Spitzensportlerinnen, ehemalige Athletinnen, Trainerinnen und Trainer, Ärztinnen und Ärzte sprechen öffentlich darüber, und der Sportdachverband Swiss Olympic setzt mit dem Projekt «Frau und Spitzensport» frauenspezifische Schwerpunkte. Projektleiterin ist die Schweizer Langstreckenläuferin Maja Neuenschwander. Sie sagt: «Fast 60 Jahren lang war im Spitzensport alles auf Männer ausgerichtet, von der Talententwicklung bis zur Sportwissenschaft und Sportmedizin. Frauenthemen wurden komplett ausgeblendet. Diesen Data-Gap gilt es nun zu schliessen.» Denn klar ist inzwischen: Was im Spitzensport für Männer gilt, ist keineswegs auch das Beste für Frauen.
Hormone bestimmen
Ein Thema, das im Spitzensport vermehrt Aufmerksamkeit erregt, ist das zyklusorientierte Training. Dessen Grundsatz: Wer im Einklang mit seinen Hormonen trainiert, kann die Hochs während des Zyklus besser nutzen und die Tiefs besser managen. Die Schweizer Skirennfahrerin Michelle Gisin setzt auf zyklusorientiertes Training, ebenso die Radsportlerin Marlen Reusser und die Stürmerin Ramona Bachmann.
Unter den Hormonen spielen Östrogen und Progesteron wichtige Rollen. Deren ständiges Auf und Ab während eines Zyklus beeinflussen die körperliche Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden einer Frau. Manchmal sind sie Spielverderber, manchmal aber richtige Energiebooster – je nach Zyklusphase. Voraussetzung für ein zyklusorientiertes Training ist ein natürlicher Zyklus, also ohne Einfluss einer hormonellen Verhütung.
Erste Zyklushälfte: Volle Power
Der weibliche Zyklus beginnt mit dem ersten Tag der Menstruation. Die Hormonspiegel von Östrogen und Progesteron sind jetzt am tiefsten. Darum fühlen sich während der Blutung viele Frauen schlapp, manche leiden unter Schmerzen. Warum gerade dann Sport helfen kann, lesen Sie in diesem Beitrag.
Der Menstruation folgt die Volle-Power-Phase. Wo sind die Bäume zum Ausreissen? Der Energieschub ist dem steigenden Östrogenspiegel zu verdanken, der wiederum die Produktion von Estradiol ankurbelt. Estradiol wirkt wie das Testosteron bei Männern: Es unterstützt den Muskelaufbau. Darum ist Maximalkrafttraining nach der Menstruation bis zum Eisprung besonders effektiv.
Zweite Zyklushälfte: Mit der Ruhe
Mit dem Eisprung sinkt die Produktion von Estradiol. Der Spiegel von Progesteron indes steigt, und das Energiehoch endet. Wasser lagert sich im Gewebe ein, der Appetit nimmt zu. Jetzt ist eine gute Zeit, Kraft und Ausdauer zu erhalten. Insgesamt soll die Trainingsintensität gemässigt und dem Befinden anpasst werden. Was besonders zählt, ist Erholung.
Im Einklang mit dem Körper
Auch Breitensportlerinnen können im Einklang mit ihrem Zyklus trainieren. Hierzu drei Tipps von Spitzensportlerin Maja Neuenschwander:
Kennenlernen. Beobachten Sie Ihren Zyklus und halten Sie Beobachtungen schriftlich fest – wann Sie sie sich grossartig fühlen, wann Sie gereizt sind, wann Sie Schmerzen haben. Führen Sie Tagebuch oder verwenden Sie eine entsprechende App. Analysieren Sie Ihre Notizen nach ein paar Monaten. Vielleicht lassen sich Regelmässigkeiten erkennen.
Abklären. Falls Sie sich für eine hormonelle Verhütung entscheiden, informieren Sie sich genau über deren Wirkstoffe und Dosierung. Wenn Beschwerden auftreten, warten Sie nicht ab. Lassen Sie sich von Ihrer Gynäkologin oder Ihrem Gynäkologen beraten.
Hinschauen. Ernähren Sie sich gesund – und ausreichend. Fragen Sie sich regelmässig: Wie viel Energie muss ich zu mir nehmen, um in Balance zu bleiben? Riskieren Sie kein RED-Syndrom (Relatives Energiedefizit im Sport, kurz: RED-S). Es entsteht, wenn eine zu tiefe Energiezufuhr bei hohem Energieverbrauch vorliegt. Zu den Symptomen gehören: Zyklusstörung, erhöhte Verletzungsanfälligkeit und reduzierte Konzentration.
Maja Neuenschwander
Quelle: Marco Herzig
Die Schweizer Langstreckenläuferin Maja Neuenschwander (41) ist Projektleiterin «Frau und Spitzensport» bei Swiss Olympic. Im ÖKK Podcast Allegra spricht Maja Neuenschwander und Silbylle Matter, Leitende Ärztin Sportmedizin Medbase, mit unserem Moderator Fabio Nay noch ausführlicher über das aktuelle Thema «Zyklus und Sport». Zu hören gibt es die Sendung auf unserer Website und überall, wo es Podcasts gibt.
Podcast zum Thema
Zyklusablauf
Quelle: Swiss Olympic