Da weiss man, was man isst: Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten sind klimaneutral, frisch und gesund. Die Gärtnerfamilie Lehner aus Ftan baut schon seit Generationen Gemüse an – neuerdings sogar in Zürich.
Sie ist zurück. Mit Kopfhörern im Ohr, Sonnenbrille auf der Nase und der Giesskanne in der Hand schreitet Livia Lehner (21) das Salatbeet ab. Stück für Stück, im Rhythmus der Musik, schenkt sie dem Boden Wasser. Die Sonne scheint hart und grell auf die höchstgelegene Biogärtnerei der Schweiz.
Hier, in der Gärtnerei ihrer Eltern in Ftan, ist Livia quasi aufgewachsen. Schon als Vierjährige hat sie beim Eintopfen der Setzlinge mitgeholfen. So hat sie von Kindesbeinen auf gelernt, im Einklang mit der Natur zu leben, Fruchtfolgen zu beachten, zu säen, zu pflanzen, zu ernten und zu kochen. Seit zweieinhalb Jahren wohnt sie im Unterland, wo sie sich an der Pädagogischen Hochschule Zürich zur Sekundarlehrerin ausbilden lässt. Nun sind Semesterferien.
Es braucht Idealismus
Livias Mutter betritt die Gärtnerei, die idyllisch auf einer Sonnenterrasse am Dorfrand gelegen ist. Routiniert tauscht sie sich mit Livia darüber aus, welche Salat- und Gemüsesetzlinge, Kräuter und Blumen bereits bewässert wurden. Natalia Lehner hat ihre Tochter sehnlichst erwartet. Nicht nur, weil sie seit drei Monaten nicht mehr zu Besuch war, sondern auch, weil ihr Mann Armon seit zwei Wochen krankheitsbedingt fehlt. Er erholt sich in einer Rehabilitationsklinik von einem Herzinfarkt. Es wird Zeit brauchen, bis er zurückkommt.
Neben dem Eingangstor der Gärtnerei steht das alte, 73 Jahre alte Gewächshaus. Es ist – wie damals üblich – zwei Meter ins Erdreich eingesenkt, um das Saatgut vor Frost zu schützen. In diesem Häuschen hat bereits der Grossvater von Livia im Winter mit der Aussaat begonnen, wie es auch Armon Lehner dieses Jahr getan hat. Anstatt dem Rat seines Vaters zu folgen und einen «gescheiten Beruf» zu erlernen, ist auch er Gärtner geworden. Und was für einer! Als Erstes stellte er – zwanzigjährig – den Betrieb auf Bio um. Das war vor 32 Jahren. Er baute Weizen an, um eigenes Brot backen zu können, und bis heute hält er Schafe und Geissen, um sich und die Familie mit Milch, Käse und Fleisch versorgen zu können und etwas dazuzuverdienen.
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«Das Gärtnern ist für mich der perfekte Ausgleich zum kopflastigen Studium.»
Robust und alpingehärtet
Eine Kundin betritt die Gärtnerei. Sie sucht eine Himbeerpflanze. Natalia empfiehlt die «Herbsternte», weil die zurückgeschnitten werden kann und im Frühling von selbst wieder austreibt. «Sehr robust», sagt sie. «Robust» und «alpingehärtet» sind gemäss Website die Pflanzen, die in der Giardinaria Lehner auf 1’630 m ü. M. wachsen. Und so sind auch die Menschen, die sie anbauen. Die Arbeit ist hart, der Ertrag gering, dafür intensiv im Geschmack und gross in der Pracht. Nirgends blühen die Blaudisteln so blau wie hier, nirgends schmecken Tomaten mehr nach Tomaten. «Das liegt an der kurzen Wachstumsphase und der intensiven Sonne hier oben», erklärt Livia Lehner.
Urban Gardening
Magazine, Zeitungen, Blogs – Urban Gardening liegt voll im Trend. Dabei war das «Gärtnern in der Stadt» bis ins 19. Jahrhundert recht normal. Erst mit der Urbanisierung schwanden die Flächen und mit dem modernen Arbeitsleben auch die Zeit zum Gärtnern. Dafür gab es Gemüse aus dem Supermarkt. Urban Gardening ist der postmoderne Gegenentwurf: Heute wachsen auf den Messegebäuden an der Porte de Versailles in Paris Erdbeeren in der Luft und Tomaten auf Kokosboden; auf Kuba produzieren 4’000 städtische Kleinbetriebe jährlich 1,5 Mio. Tonnen Biogemüse; und wo in Zürich früher der Grasshopper-Club Fussball spielte, gärtnern heute hippe Städter in der Stadionbrache. In fast jeder Schweizer Stadt schmücken Hochbeete öffentliche Plätze, sodass sich alte SBB-Palettenrahmen eines ungeahnten zweiten Frühlings erfreuen. Einen unterhaltsamen Einstieg ins Thema Urban Gardening bietet die Website www.stadtwurzel.ch.
Von Berg zu Tal
Zwar fühlt sich die Studentin, wie sie betont, «sehr wohl» in Zürich, dennoch nimmt sie, wann immer sie in Ftan ist, ein Stück Heimat mit in die Stadt: Samen oder Setzlinge aus der eigenen Gärtnerei. In ihrer ersten Wohngemeinschaft funktionierte sie die Terrasse zum Garten um, seit einem halben Jahr wohnt sie mit ihrer WG in einem Reihenhäuschen und hat dort als Erstes einen kleinen Garten angelegt. Trotz Prüfungsstress kommt sie dazu, diesen zu pflegen. Im Frühsommer gedeihen dort nun Kohlraben, Tomaten, Rüebli, Kartoffeln, Buschbohnen, Schnittsalate, Spinat, Mangold und allerlei Tee- und Küchenkräuter. «Das Gärtnern ist für mich der perfekte Ausgleich zum kopflastigen Studium», sagt Livia. Die Freundinnen aus der WG freut’s, kommen sie doch so des Öfteren in den Genuss von erntefrischem und biologischem Gemüse, das anderswo das studentische Budget empfindlich belasten würde. «Nur über die Schnecken im Salat wundern sie sich manchmal», lacht Livia.
Einfach gut
Während sich die WG-Partnerinnen in den Semesterferien um Livias Garten in Zürich kümmern, packt sie in der Gärtnerei in Ftan mit an. Bald ist Mittagspause. Livia schnappt sich ein Messer und macht sich an die Ernte: Kohlraben, Spinat, Mangold, Radieschen, Randenblätter von Setzlingen, Blattsalat sowie einige Kräuter wandern in die Schüssel. Dann verschwindet sie ins Elternhaus, um eine halbe Stunde später zum Mittagessen zu rufen. Auch Severin, ihr Bruder, gesellt sich dazu. Er kommt vom Heuen. Der Bauingenieur, der eigentlich in Bern wohnt, ist wie Livia auf Heimatbesuch, um die Eltern zu unterstützen. Eine grosse Schüssel mit einem Reis-Linsen-Salat mit Gartengemüse steht auf dem Tisch, dazu gibt es eine Spinat-Mangold-Wähe. Es kracht und knackt und schmeckt herrlich.
Selbstversorgung als Ideal
Nicht alles, was an diesem Mittag auf den Teller kommt, entstammt dem eigenen Garten. Früher wäre es noch etwas mehr gewesen – das Mehl für den Wähenteig beispielsweise –, doch auch die Lehners mussten Kompromisse machen. Weil der Verdienst aus der Gärtnerei knapp ist, arbeitet Natalia Lehner seit einigen Jahren wieder als Kindergärtnerin in Scuol; das Weizenfeld hat die Familie aufgegeben. Die Gärtnerei, zwei Ferienwohnungen und der Bauernhof mit 55 Mutterschafen und zwölf Geissen geben mehr als genug zu tun. «Wir werden in Zukunft noch kürzertreten müssen», sagt Natalia Lehner im Hinblick auf die Gesundheit ihres Mannes. Und Livia? Sie ist jung, sprüht vor Energie und Idealismus. Und einen grünen Daumen hat sie auch. Sie träumt den Traum einer nachhaltigen Gartenbewirtschaftung zur Selbstversorgung weiter. Und sie will nicht einmal ausschliessen, dereinst nach Ftan zurückzukehren, um die Giardinaria in dritter Generation weiterzuführen. «Nur ohne Blumen», sagt sie.
Experteninterview mit Davide Migliacci, Koch und Inhaber von Agriturismo Miravalle im Puschlav.
Davide Migliacci, welche Zutaten kommen in Ihrem Restaurant aus dem Garten?
Wir ernten Salate und Gemüse wie Zucchini, Spinat, Kürbisse und Rüben. Hinzu kommen vielerlei Kräuter, Wal- und Haselnüsse ausserdem Obst wie Äpfel, Birnen, Pflaumen, Himbeeren, Johannisbeeren, Feigen und Heidelbeeren. Und wir «räubern» auf den Wiesen rund um unseren Agriturismo: Brennnesseln, Löwenzahn oder Wildkräuter wie Silenen und Salbei.
Wie viel Zeit verbringen Sie im Garten?
Der Garten ist das Reich meiner Frau. Ich komme nur zum Ernten, so 30 Minuten am Tag. Die Gartenpflege ist aufwendig, die Zeit wird immer knapper – leider.
Warum lohnt sich der eigene Garten?
Der Garten lohnt sich einerseits für unsere Gäste, denn seine Erzeugnisse sind knackiger, geschmackvoller und gesünder, weil sie unbehandelt sind. Andererseits profitiere auch ich als Koch, weil ich immer frische Produkte vor der Tür habe – das ermöglicht Flexibilität und verhindert Food Waste. Und schliesslich: Der Garten ist eine Leidenschaft. Hier erlebt man die Natur intensiver als im Supermarkt.
Was sollte man bei der Zubereitung von Gartengemüse beachten?
Wenn man frisches Gemüse verarbeitet, braucht es nicht viel. Am liebsten brate ich es nur kurz mit gutem Olivenöl an und gebe Salz, Pfeffer und frische Kräuter dazu – fertig. So bleibt das Gemüse knackig und authentisch.
Apropos authentisch – was verbirgt sich hinter dem Label «100 % Valposchiavo»?
Auch im Miravalle sind wir keine Selbstversorger. Doch achte ich beim Einkauf auf regionale Produkte. Ich selbst habe das Label «100 % Valposchiavo» mitgegründet, das die Zusammenarbeit zwischen Gastronomen, Landwirten und Händlern im Puschlav fördert und Kunden zeigt, dass sie hier authentisch essen. Es geht um die Wertschätzung gegenüber der Natur, die uns so viel schenkt.