Für viele sei es schwierig, zwischen Emotionen zu unterscheiden. Diese Erfahrung macht Kerstin Abt-Hilbig, Fachärztin Psychiatrie und Psychotherapie, regelmässig. «Die Leute können zwar sagen, dass sie ein eher gutes oder ein eher schlechtes Gefühl haben, aber wir lernen kaum, zwischen unseren Emotionen zu unterscheiden.» Deshalb versucht sie mit ihren Patientinnen und Patienten jeweils herauszufinden, wie sie sich genau fühlen und was bestimmte Emotionen bedeuten. So lernt man, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und auf sie zu hören. Die «Wie geht’s dir?»-Kampagne verfolgt dasselbe Ziel. Die Kampagne wurde im Auftrag der Stiftung «Gesundheitsförderung Schweiz» von verschiedenen Kantonen sowie der Stiftung «Pro Mente Sana» ins Leben gerufen. Sie soll die Menschen dafür sensibilisieren, dass es für die psychische Gesundheit wichtig ist, über Gefühle – auch negative – zu sprechen. Denn Reden ist oftmals der erste Schritt zur Besserung und macht Hilfe erst möglich.
Wie steht es um die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung?
Laut einer Befragungsreihe der Forschungsstelle Sotomo stand es im Mai 2021 ziemlich gut um die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung. Nach über einem Jahr Pandemie gaben drei Viertel der Befragten an, dass es ihnen gut gehe und sie mit den Einschränkungen gut zurechtkämen. Diese Zahlen widerspiegeln einen grossen Vorteil des Menschen: Seine Anpassungsfähigkeit. Der Mensch findet auch unter schwierigen Umständen oft einen Weg, sich anzupassen und in einer neuen Realität zurechtzufinden. Die Fachärztin Kerstin Abt-Hilbig weist jedoch darauf hin, dass in der Pandemie das Anpassen nicht einfach war. Die Leute hätten bisher noch nichts Vergleichbares erlebt und könnten nicht auf Erfahrungen zurückgreifen. Deshalb überrascht es auch nicht, dass es einer grossen Minderheit der Schweizer Bevölkerung nicht so gut geht. Ein Viertel der Befragten gab an, sich «es geht so» oder «nicht so gut» zu fühlen. Besonders jungen Menschen machen die Umstände gemäss der Befragung zu schaffen. Für diese Altersgruppe sind soziale Begegnungen sehr wertvoll für das psychische Wohlbefinden – und haben während der Pandemie gefehlt.
Kerstin Abt-Hilbig ist Fachärztin Psychiatrie und Psychotherapie und führt in Bonaduz eine eigene Praxis. In der ersten Folge des ÖKK-Podcasts «Allegra» bespricht sie mit Fabio Nay, was Corona mit unserer Psyche macht.
«Niemand erwartet, dass Sie die Probleme der anderen lösen. Durch die Nachfrage und das offene Ohr helfen Sie bereits.»
Genau diesen Personen könnte reden helfen – auch wenn es vielen schwerfällt. Eine ehrliche Nachfrage und aufmerksames Zuhören können jedoch eine gute Voraussetzung für ein entlastendes Gespräch bieten. Haben Sie das Gefühl, einer Person in ihrem Umfeld geht es nicht so gut? Kerstin Abt-Hilbig hat gute Tipps, wie Sie die Person darauf ansprechen können:
- Sprechen Sie die Person in einem ruhigen Moment allein an. Je mehr Leute dabei sind, desto weniger öffnet man sich normalerweise.
- Beginnen Sie das Gespräch mit einer Ich-Botschaft. So drücken Sie Ihre Empfindung aus. Für diese müssen Sie sich nicht rechtfertigen. Geeignete Formulierungen wären «Ich habe das Gefühl, dass dich etwas bedrückt.» oder «Ich erlebe dich etwas gestresst.».
- Lassen Sie dem Gegenüber die Möglichkeit offen, sich aus dem Gespräch zurückzuziehen. Vielleicht will oder kann die angesprochene Person nicht reden. Oder Ihre Empfindung ist falsch und alles ist in Ordnung. Fragen wie «Ist das denn so oder täusche ich mich?» können Klärung schaffen.
Bei einem solchen Gespräch muss man sich aber auch seiner persönlichen Grenzen bewusst sein. Auf der «Wie geht’s dir?»-Website finden Sie wertvolle Tipps dazu. Wichtig ist: Niemand erwartet, dass Sie die Probleme der anderen lösen. Durch die Nachfrage und das offene Ohr helfen Sie bereits. In manchen Situationen kann es auch sinnvoll sein, auf professionelle Angebote zu verweisen. Dazu gibt es verschiedenste Möglichkeiten – von der dargebotenen Hand, über kirchliche Angebote bis hin zu psychologischer oder psychiatrischer Behandlung. Kerstin Abt-Hilbig stellt jedoch fest, dass die Hemmschwelle hoch sei, einen Psychologen oder eine Psychiaterin aufzusuchen. Dies, weil psychologische Probleme immer noch stark stigmatisiert und tabuisiert würden.
Wie geht es mir?
Um für andere eine Unterstützung zu sein, muss man jedoch auch auf das eigene Wohlbefinden achten. Einige Tipps von Kerstin Abt-Hilbig können helfen, der psychischen Gesundheit Sorge zu tragen:
Laut Studien machen gute Beziehungen den Menschen langfristig zufrieden. Es müssen nicht viele sein. Aber ein paar wenige, enge Freundschaften können viel Kraft geben, mit der man den weniger angenehmen Sachen im Leben viel besser begegnen kann.
Überlegen Sie sich, was Ihnen guttut und Sie positiv stimmt. Und tun Sie es! Das können auch kleine Freuden im Alltag sein, etwa ein Buch lesen oder eine Kerze für eine gemütliche Stimmung anzünden. So können Sie sich einen Notfallkoffer mit positiven Erinnerungen packen und auf diesen zurückgreifen, wenn es Ihnen mal schlechter geht.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Manchmal muss alles auf den Kopf gestellt und durchgeschüttelt werden, bevor man gewisse Sachen neu ordnen kann. Vielleicht tut Ihnen eine neugewonnene Gewohnheit gut und Sie möchten Sie beibehalten.