Viele Menschen tun sich schwer, ihre Emotionen zu beschreiben. Diese Erfahrung macht Kerstin Abt-Hilbig, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, immer wieder: «Die Leute wissen zwar, ob sie eher ein gutes oder ein schlechtes Gefühl haben. Aber wir unterscheiden kaum zwischen unseren Emotionen.» Die Expertin versucht deshalb, mit ihren Patient*innen herauszufinden, wie sie sich fühlen und was das bedeutet. So lernt man, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und auf sie zu hören.
Die «Wie geht’s dir?»-Kampagne verfolgt dasselbe Ziel. Sie wurde von verschiedenen Kantonen sowie von der Stiftung Pro Mente Sana ins Leben gerufen und wird seit 2018 von der Gesundheitsförderung Schweiz durchgeführt. Die Kampagne stärkt das Bewusstsein fürs Thema. Sie macht Mut, über psychische Belastungen zu sprechen, vermittelt konkrete Tipps und setzt Impulse zur Steigerung des psychischen Wohlbefindens.
Hohe psychische Belastung
Vierzig Prozent der Schweizer Bevölkerung sind psychisch stark oder sehr stark belastet – das hat eine repräsentative Umfrage im Jahr 2022 ergeben. Die Teilnehmenden haben in einem digitalen Selbst-Check Fragen zu ihrer Stimmung beantwortet. Ein Blick auf die Ergebnisse zeigt, dass Jüngere häufiger psychisch belastet sind als ältere Personen und Frauen mehr als Männer. Die persönliche Lebenssituation ist der Hauptgrund für eine psychische Belastung.
Reden ist Gold wert
Darüber zu reden, ist ein erster Schritt – auch wenn es vielen schwerfällt. Ehrliches Nachfragen und aufmerksames Zuhören sind wichtige Voraussetzungen dafür. Geht es jemandem in Ihrem Umfeld nicht gut? Kerstin Abt-Hilbig hat hilfreiche Tipps, was Sie tun können:
- Sprechen Sie die Person in einem ruhigen Moment und allein an. Je mehr Leute dabei sind, desto weniger öffnet man sich normalerweise.
- Beginnen Sie das Gespräch mit einer Ich-Botschaft, um Ihre Empfindung auszudrücken. Geeignete Formulierungen sind beispielsweise «Ich habe das Gefühl, dass dich etwas bedrückt» oder «Ich erlebe dich gestresst».
- Geben Sie dem Gegenüber die Möglichkeit, sich aus dem Gespräch zurückzuziehen. Vielleicht möchte die angesprochene Person nicht reden. Oder Ihre Empfindung ist falsch und alles ist in Ordnung. Fragen wie «Ist das so oder täusche ich mich?» schaffen Klarheit
Bei einem solchen Gespräch muss man die eigenen Grenzen kennen. Auf der «Wie geht’s dir?»-Website finden Sie wertvolle Tipps dazu. Wichtig: Niemand erwartet, dass Sie die Probleme anderer lösen. Wenn Sie nachfragen und ein offenes Ohr haben, helfen Sie bereits. In gewissen Situationen ist es sinnvoll, auf professionelle Angebote hinzuweisen. Von der Dargebotenen Hand über kirchliche Angebote bis hin zur psychologischen oder psychiatrischen Behandlung gibt es vielfältige Möglichkeiten. Gemäss Kerstin Abt-Hilbig ist die Hemmschwelle jedoch hoch, eine*n Psycholog*in oder eine*n Psychiater*in aufzusuchen. Der Grund: Psychische Probleme sind immer noch stark stigmatisiert und werden tabuisiert.
Nachhaltige Selbstfürsorge
Um andere zu unterstützen, muss man auch auf die eigene Gesundheit achten. Mit diesen Tipps von der Fachärztin steigern Sie Ihr psychisches Wohlbefinden:
- Gute Beziehungen machen uns langfristig zufrieden. Es müssen nicht viele sein – ein paar wenige enge Freundschaften schenken Kraft für schwierige Angelegenheiten im Leben.
- Überlegen Sie sich, was Ihnen guttut und was Sie positiv stimmt. Und tun Sie es. Das können Kleinigkeiten im Alltag sein: etwa ein Buch lesen oder eine Kerze anzünden für eine gemütliche Stimmung. Auf diese positiven Erinnerungen können sie zurückgreifen, wenn es Ihnen mal schlechter geht.
- Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Manchmal muss aber alles auf den Kopf gestellt werden, bevor man gewisse Dinge neu ordnen kann. Vielleicht tut Ihnen eine neugewonnene Gewohnheit gut und Sie behalten sie bei.
Kerstin Abt-Hilbig ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und führt in Bonaduz eine eigene Praxis.