Auf Kommando der Sommelière greifen die Gäste zu ihren knapp gefüllten Gläsern, halten sie ins Licht, betrachten die Reflexionen, schwenken die Gläser, schnuppern, führen sie an ihre Lippen, nippen ein wenig, gurgeln, schlucken und warten, welch’ Nachhall da geschmacklich kommen möge.
Das Besondere an dieser Degustation: In den vier Degustationsgläsern, die jeweils vor den Gästen stehen, schimmern keine edlen Weine aus der Bündner Herrschaft, sondern: Wasser. Wasserdegustationen liegen im Trend; fast 100 ausgebildete Wassersommelièrs gibt es in der Schweiz mittlerweile. Diese Wertschätzung gegenüber dem Wasser ist bemerkenswert, denn als Lebensmittel hat Trinkwasser in der Schweiz vor allem eine Funktion: Klos spülen. 142 Liter Trinkwasser werden in Schweizer Haushalten pro Kopf täglich verbraucht, davon landen 41 Liter im WC – über 20-mal mehr als wir täglich trinken. Statistisch gesehen spräche einiges dafür, das Schweizer Trinkwasser in Toilettenwasser umzubenennen.
Wertschätzung eines stillen Begleiters
Doch zurück zur Wasserdegustation, die in der «Wasserbar» des Grand Resort Bad Ragaz stattfindet. Bei dieser befindet sich natürlich kein schlichtes Trinkwasser in den Gläsern, sondern Mineralwässer, die aus vier verschiedenen Quellen stammen und sich in ihrer mineralischen Zusammensetzung unterscheiden. Der erste Schluck hinterlässt allerdings ratlose Gesichter. Wasser zu schmecken, scheint gewöhnungsbedürftig, die Sinneseindrücke in Worte zu fassen, noch schwieriger. Ein zweiter Schluck muss her. Dann endlich bemerkt eine junge Teilnehmerin: «Es schmeckt ein bisschen zitronig.» Und das freut Wassersommelière Anke Scherer, die die Degustation leitet. «Gut erkannt!», sagt sie und erklärt: Der säuerliche Geschmack komme vom hohen Hydrogencarbonat-Gehalt des Mineralwassers, weshalb man dieses auch «saures Carbonat» nenne.
Kaum jemand in der Schweiz kann Wasser präziser schmecken und beschreiben als Anke Scherer. Die 49-jährige Hotelfachfrau hat jahrelang in der Gastronomie gearbeitet und sich geschmacklich weitergebildet – besonders mit Getränken wie Tee oder Sake. Während eines Kaffeekurses bemerkte sie, welchen Einfluss unterschiedliches Wasser auf den Geschmack des Kaffees hat. Wenig später reiste sie nach München, um sich in einem zehntägigen Kurs zur Wassersommelière ausbilden zu lassen. Heute gibt sie Workshops und hält Vorträge zum Thema Wasser und ist bei GastroSuisse Referentin für angehende Wassersommeliers.
Mineralwasser und Leitungswasser
Aufgewachsen ist Scherer im mitteldeutschen Hunsrückgebirge. Dort war es normal, Mineralwasser zu trinken. «Unser Leitungswasser war aufbereitetes, sprich desinfiziertes Rheinwasser und war geschmacklich zweifelhaft», so Scherer. In der Schweiz ist das anders: Das Trinken von Leitungswasser ist verbreitet. Ja, man zahlt in Restaurants vielerorts Geld für einen «Hahnenburger». Im internationalen Vergleich ist das Schweizer Leitungs- oder Trinkwasser tatsächlich gut.
Es besteht im Schnitt aus 40 Prozent Quellwasser, 40 Prozent Grundwasser und 20 Prozent See- und Flusswasser, wobei die Wässer der quellnahen Schweizer Seen und Flüsse von weitaus höherer Güte sind als beispielsweise das Rheinwasser in Mitteldeutschland. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Schweizer*innen weniger Mineralwasser als Deutsche trinken: 110 statt 130 Liter pro Kopf und Jahr.
Die Mineralisation
Wer jedoch Wasser mit Essen oder Wein bewusst kombinieren möchte, muss auf unterschiedliche Mineralwässer zurückgreifen. Deshalb findet sich heute in vielen gehobenen Restaurants eine Auswahl an Mineralwässern auf der Getränkekarte. Geschmacksgebend für ein Mineralwasser sind die enthaltenen Mineralien – wohingegen Kohlensäure einen rein sensorischen Effekt hat und den meisten Wässern nachträglich zugefügt wird.
Welche Mineralstoffe ein Mineralwasser in welcher Konzentration beinhaltet, hängt von den Sediment- und Gesteinsschichten ab, durch die sich das Regenwasser einst auf einer bis zu 25 Jahre dauernden Reise den Weg gebahnt hat. So haben Mineralwässer aus Kalk- und Schieferböden einen hohen Anteil an Calcium und Magnesium, was sie trocken und säuerlich macht, während Wässer aus Sandsteinböden eher mineralarm sind und daher weich und mild schmecken.
Welches Wasser passt?
Während Weinsommeliers ihre Gäste hauptberuflich bei der Weinauswahl unterstützen, sind Wassersommeliers eher im Hintergrund aktiv. So beraten sie Restaurants und Hotels bei der Zusammenstellung einer Wasserkarte oder bilden das Servicepersonal in der Wasserberatung weiter. Welches Wasser passt zu einem Studach Pinot Noir 2012? Und welches ist der ideale Begleiter für Rehpfeffer?
Auf solche Fragen hat Anke Scherer präzise Antworten – und auch die passenden Wasserflaschen im heimischen Keller. Allzu exotische Wässer, wie das von Hollywoodstars gepriesene Fiji-Wasser, sucht man dort vergebens. «Die hohe Konzentration an Silizium hat auch das Schweizer Rhäzünser», sagt sie. «Und Wasser um die halbe Welt zu transportieren, ist vor allem eines: Wasserverschmutzung.»
Tipps von Wassersommelière Anke Scherer
- Hochmineralisiertes Wasser (mehr als 1500 mg Mineralstoffe / l): zu kräftigen Fleischgerichten wie Wild oder Gulasch
- Niedrigmineralisiertes Wasser (weniger als 500 mg Mineralstoffe / l): zu leichten, milden Gerichten wie Saibling oder Vorspeisen
- Wasser mit hohem Magnesiumgehalt (süsslich bis bitter): zu scharf gewürzten Gerichten wie Currys
- Wasser mit hohem Natriumgehalt (leicht salzig): zu Süssem
- Wasser mit hohem Hydrogencarbonat-Gehalt (säuerlich, intensiv): zu Käsefondue oder Raclette