Psychotherapie ist: «Das eigene Denken und Verhalten verstehen und wenn nötig – mit der Unterstützung von Fachpersonen – etwas daran ändern.» So fasst es Henrik Berthel, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie sowie Vertrauensarzt bei ÖKK, zusammen.
Was so einfach klingt, ist für viele eine grosse Herausforderung. Denn wir machen uns oft wenig Gedanken über unser Verhalten. Einige Verhaltensweisen hat die Natur so eingerichtet, andere haben wir uns angeeignet. Gemeinsam ist allen, dass wir im Alltag nicht ständig darüber nachdenken, sondern einfach handeln.
Aus seiner langen Erfahrung als Psychiater weiss Henrik Berthel, dass viele Menschen Unterstützung brauchen, um das eigene Verhalten und dessen Auslöser reflektieren zu können. Auch braucht es oft eine Fachperson, damit sie erkennen, wie ihr Verhalten die psychische Gesundheit beeinflusst. Das Vorgehen bei einer Psychotherapie vergleicht der Fachmann mit einem Hausbrand: «Die Leute kommen meist in einer Krise in die Psychotherapie. Da gilt es erstmal, das Feuer zu löschen. Das heisst, der Person aus der akutesten Krise zu helfen und zu verhindern, dass die Situation noch schlimmer wird. Anschliessend kann das runtergebrannte Haus Schritt für Schritt wiederaufgebaut und dabei sichergestellt werden, dass es nicht gleich wieder in Flammen aufgeht.»
Psychische Gesundheit
Das Thema psychische Gesundheit wird auf den Kanälen von ÖKK noch bis Ende 2021 beleuchtet. Entdecken Sie die verschiedenen Facetten – ob in den Bereichen Sport, Familie oder Ernährung.
Für diesen Prozess wird in erster Linie mit Gesprächstherapie gearbeitet. «Am Anfang der Therapie beschäftigen sich die Patientinnen und Patienten vor allem mit sich selbst. Das fällt vielen schwer. Einige reden beispielsweise immer über ihren Chef. Dieser mag ein grosser Teil des Problems sein. Da er aber nicht anwesend ist, macht es wenig Sinn, über ihn zu reden. Vielmehr setzt man sich damit auseinander, was mit einem selbst passiert, wie man sich verhält, was man denkt und welche Erfahrungen man schon gemacht hat.» Konnte das Feuer mit der Gesprächstherapie gelöscht werden, geht es darum, das Haus stabil wiederaufzubauen. Dabei können aktive Übungen helfen. Patientinnen und Patienten üben zum Beispiel in der Therapie, wie sie mit ihrem Chef ein bestimmtes Gespräch führen und setzen das dann auch in der Realität um. Personen, die an Höhenangst leiden, gehen mit ihrer Therapeutin oder ihrem Therapeuten oft auf hohe Türme. Natürlich alles mit einer guten Vorbereitung und eng begleitet. Zu solchen Schritten kommt es jedoch erst beim Feinschliff des Wiederaufbaus des Hauses – kurz bevor alles wieder sicher steht.
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«Die Leute kommen meist in einer Krise in die Psychotherapie. Da gilt es erstmal, das Feuer zu löschen.»
In gewissen Fällen kann es auch Sinn machen, beim Löschen des Brandes und beim Wiederaufbau Medikamente als Unterstützung einzusetzen. Dazu hält Henrik Berthel fest: «Die Medikamente bauen das Haus nicht. Kein Medikament löst das Problem. Aber manchmal braucht es ein Medikament, damit man genügend Energie hat, um das Problem zu lösen.» Hat eine Person etwa Schlafstörungen, kann ein Schlafmittel wichtig sein, damit sie überhaupt genug Energie hat, um ihre Probleme anzugehen.
Medikamente können jedoch nur von einer Fachärztin oder einem Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie, umgangssprachlich einer Psychiaterin oder einem Psychiater, verschrieben werden. Die Psychotherapie hingegen kann auch von Psychologinnen und Psychologen durchgeführt werden. Die sehr ähnlich klingenden Berufsbezeichnungen und die sich teilweise überschneidenden Handlungsfelder können für Verwirrung sorgen.
Psychiaterinnen und Psychiater haben Medizin studiert und den Schwerpunkt auf die Psychiatrie gelegt. Psychologinnen und Psychologen haben hingegen Psychologie studiert – eine empirische Verhaltenswissenschaft. Henrik Berthel erklärt: «Bei der Behandlung psychischer Probleme liegt der Unterschied zwischen den zwei Berufsgruppen darin, dass die Medikamentierung nur von Fachärztinnen und Fachärzten gemacht werden darf. Die Psychotherapie können beide gleichermassen professionell durchführen.»
Aufgrund dieser verschiedenen Kompetenzbereiche gibt es psychologische, ärztliche und delegierte Psychotherapie. Bei einer psychologischen Psychotherapie können im Gegensatz zur ärztlichen keine Medikamente verschrieben werden. Die Therapie selbst ist jedoch gleich. Bei der delegierten Psychotherapie werden die Kompetenzen beider Berufsgruppen genutzt, indem eine Fachärztin oder ein Facharzt für eine allfällige Medikamentierung und meist auch die Diagnose verantwortlich ist, die Psychotherapie jedoch von Psychologinnen und Psychologen durchgeführt wird.
Welche Form der Psychotherapie sich am besten eignet, ist individuell. Wichtig ist, dass man eine Fachperson findet, mit der man bereit ist, das eigene Denken und Verhalten ehrlich und offen zu reflektieren und die einem helfen kann, sich psychisch wieder besser zu fühlen.
Henrik Berthel
Henrik Berthel ist Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie und Vertrauensarzt bei ÖKK. Er war viele Jahre in verschiedenen psychiatrischen Kliniken sowie für die Psychiatrischen Dienste Graubünden tätig. Inzwischen ist er Vertrauensarzt bei ÖKK.
Psychiaterinnen und Psychiater sind Fachärztinnen und Fachärzte. Eine Behandlung durch sie in Form einer ärztlichen Psychotherapie wird deshalb von der Grundversicherung übernommen – unter Berücksichtigung der Franchise und des Selbstbehalts. Dies gilt auch für die delegierte Psychotherapie. Bei dieser übernehmen die Fachärztinnen und Fachärzte die Diagnose und die Medikamentierung, die Psychotherapie delegieren sie jedoch an Psychologinnen und Psychologen.
Führt eine Psychologin oder ein Psychologe mit einer kantonalen Bewilligung zur selbstständigen Praxisführung die Psychotherapie durch, sind über die Zusatzversicherung ÖKK START 50 Prozent der beanspruchten Leistungen und bis zu 1'000 Franken pro Kalenderjahr gedeckt.
Der Bundesrat hat im März 2021 entschieden, dass ab dem 1. Juli 2022 psychologische Psychotherapie ebenfalls über die Grundversicherung gedeckt wird, wenn eine ärztliche Verordnung vorliegt – eine Ärztin oder ein Arzt also eine Psychotherapie anordnet.