Im perfekten Tempo
Wer radelt, ist nicht so schnell wie mit dem Auto, aber auch nicht so langsam wie zu Fuss. «Auf dem Velo bereise ich ein Land im perfekten Tempo», sagt Niklaus Zippert. Wohl lassen sich beachtliche Strecken zurücklegen. Dennoch wird man von neuen Orten, Menschen oder Kulturen weniger überrumpelt. «Alles kommt gemächlich auf mich zu. Es ist wie ein achtsames Eintauchen ins Fremde», schwärmt der Postangestellte. Ein weiterer Unterschied: Reisende im Auto fahren von A nach B. Reisende auf dem Velo tun das ebenso, aber sie erleben das Dazwischen viel intensiver. «Und genau dort, wo nur wenige Touristen Halt machen, kommt es oft zu besonders authentischen Begegnungen», so Niklaus Zippert.
Mehr erleben
Sie waren 60 Kilometer gegen den Wind gefahren. Jetzt brauchten Nicole Koller und Niklaus Zippert dringend eine Pause. In einem Dorf fanden sie ein Teehaus, parkten die Velos und gönnten sich etwas Ruhe. Diese aber währte nur kurz. Die Reisepässe – wo waren sie? Die lagen doch nicht etwa noch im Hotel, von dem aus die beiden Veloreisenden am Morgen aufgebrochen waren? Die Männer im Teehaus, alles Einheimische, bemerkten die Aufregung der Fremden und fragten: «Problem, Sir?» Kaum hatten Nicole Koller und Niklaus Zippert ihre Lage mit Händen und Füssen erläutert, machte einer der Männer einen Anruf. Eine knappe Stunde später hielt ein Auto vor dem Teehaus, und ein Mann stieg aus. In der Hand: die beiden roten Pässe. Ohne zu fragen, war Nicole Koller und Niklaus Zippert geholfen worden – ausgerechnet hier, in Kurdistan, einer Gegend, über die ihnen im Vorfeld mehr als ein Schauermärchen erzählt worden war. Dieses Erlebnis tat der Seele gut. Und so fragten sie den Helfer, was er sich zum Dank wünsche. Er antwortete: «Seid meine Gäste!»
Der Exotenbonus
Nicole Koller und Niklaus Zippert nahmen die Einladung gerne an. Sie assen mit der Familie des Mannes, besuchten die Dorfschule und übten kurdische Volkstänze. Ob in Kurdistan oder in Peru: «Auf unseren Veloreisen gelten wir als Exoten. Wer uns begegnet, spricht uns an, stellt tausend Fragen und lädt uns zu sich ein», sagt Niklaus Zippert. So auch in Kirgistan. Als ihnen hier beide Velos gestohlen worden waren, war das dem ortsansässigen Polizisten dermassen unangenehm, dass er die von weit her Gereisten so lange als seine Gäste hingebungsvoll beherbergte, bis der Diebstahl aufgeklärt worden war.
Natur von allen Seiten
Veloreisende kommen aber nicht nur Einheimischen nahe, sondern auch der Natur: ihrem Zauber eben- so wie ihrer Gewalt. Nicole Koller erinnert sich an einen magischen Moment in der Türkei: «Wir erholten uns in unseren Schlafsäcken, da legte sich plötzlich eine geheimnisvolle Ruhe über unser Zelt. Welch Überraschung: Es schneite.» Eine ganz andere Seite der Natur erlebte das Paar in Patagonien. «An einem Tag wehte der Wind so stark, dass wir unsere Velos nicht einmal mehr schieben konnten», erzählt Nicole Koller. «Also legten wir uns im Schlafsack in den Strassengraben und fuhren erst in der Nacht weiter, als der Wind nachliess.»
Minimale Ausrüstung, maximales Glück
«Ich bestimme, wann ich aufstehe, wo ich esse, wie weit ich fahre und wohin», schwärmt Nicole Koller. Diese Freiheit wird verstärkt, weil der gewohnte Überfluss fehlt. «Auf Veloreisen habe ich gelernt, wie wenig ich brauche, um glücklich zu sein», sagt die Churerin. «Am Lagerfeuer unter dem Sternenhimmel Australiens, 300 Kilometer weit von der nächsten Ortschaft entfernt – das ist für mich pures Glück.»
Reise zu sich selbst
Entlang der australischen Westküste waren Nicole Koller und Niklaus Zippert manchmal tagelang allein unterwegs: kein Mensch, kein Dorf, kein Baum und kaum Verkehr. Die Strecke zog sich durch eine immergleiche karge Landschaft. Am Anfang lernte Nicole Koller die Nummernschilder der vorbeifahrenden Autos auswendig. Als diese immer seltener wurden, suchte sie den Himmel nach Wolken ab, die aussahen wie Tiere. Aber irgendwann hatte sie davon genug und tat stattdessen nichts als Velo fahren. «Öde Streckenabschnitte sind wichtig, weil sie mir Raum geben, das Erlebte zu verarbeiten», sagt Nicole Koller. Nie habe sie so viel Zeit zum Nachdenken – und Nichtdenken – wie auf Veloreisen. Nicole Koller: «Darum entdecke ich auf Veloreisen nicht nur die Welt, sondern immer auch mich selbst.»
Gemeinsam unterwegs
Nicole Koller (56) und Niklaus Zippert (52) aus Chur haben sich vor 16 Jahren auf einer Veloreise durch Patagonien kennengelernt. Seither beradeln die Sportlehrerin und der Postangestellte gemeinsam die Welt – gerne an den Wochenenden, noch lieber für mehrere Monate. Ihre letzte längere Reise führte von Chur nach Pakistan; als Nächstes zieht es das Paar in den Norden. Wann es losgeht, ist unklar. Nur das Reisemittel steht fest: das Velo.