Sie ist heiss und er eiskalt: die Rheinschlucht und der Vorderrhein. Auf über 30 Grad Celsius klettert die Lufttemperatur an diesem Wochenende, während das Wasser 7,9 Grad misst. Kimo stockt der Atem, als er in den reissenden Fluss eintaucht.
Doch was ist schöner, als an einem heissen Wochenende ins kühle Nass zu springen? Obwohl – genau genommen hat die Familie Jörger mit den Eltern Susann und Bruno und den Kindern Lia (15) und Kimo (13) keinen Sprung ins Wasser geplant, sondern ein River Rafting auf dem Wasser. Deshalb ist Lia jetzt am Hadern: «Muss ich da wirklich reinspringen?» Sie muss, sagt Rafting Guide Alessandro Niehaus von der Kanuschule Versam. Das kurze Schwimmtraining mit Helm, Neoprenanzug und Schwimmweste gehört zum Sicherheitskonzept. Geduldig spricht er Lia Mut zu, ebenso ihre Eltern und ihr Bruder. Dann löst sie langsam ihre Hand vom Ufer und lässt sich von der Strömung mitreissen, ein paar Meter nur, um am vereinbarten Ausstiegspunkt wieder ans Ufer zu kraulen. Mutprobe bestanden.
Familienausflüge – keine Selbstläufer
Immer wieder unternehmen die Jörgers Ausflüge. Und das ist wichtig, findet Familienberaterin Riccarda Menghini «Durch gemeinsame Ausflüge kann die familiäre Gemeinschaft gestärkt werden.» Allerdings sind Familienausflüge keine Selbstläufer. Eltern müssen sich – am besten gemeinsam mit den Kindern – gut überlegen, wohin die Reise gehen soll. Zum x-ten Mal im nahegelegenen Wald spazieren? Das mag für ein klärendes Gespräch gut sein, aber kaum für ein bleibendes Erlebnis.
Quote
«Durch gemeinsame Ausflüge kann die familiäre Gemeinschaft gestärkt werden.»
Die Kraft der Momente
Alle Frau und Mann an Bord! Alessandro erklärt kurz die Paddelkommandos, dann löst er die Leine. Die nächste Abkühlung folgt sogleich: Nach 200 Metern knickt der Fluss kurz vor einer Felswand scharf nach rechts ab. «Vorwärts, links!», ruft Alessandro. Das Boot nimmt Fahrt auf, sticht nach unten, vorne türmt sich eine Wasserwand auf, ein Ruck, ein Wasserschwall und – nein, das Boot kentert nicht, zum Erstaunen von Lia und Kimo, die am Bug sitzen und nun mit grossen Augen ihre Eltern anstarren. «Oh, mein Gott!»
Ein dritter Faktor, der kraftvolle Momente auszeichnet: die «Verbindung» zueinander, das gemeinsame Erleben. «Es ist wichtig, es ist echt, und wir meistern das zusammen», heisst es in «The Power of Moments». Will heissen: Der Vorderrhein ist kein Planschbecken, er ist echt und die Jörgers meistern ihn mit geeinter Paddelkraft.
Wie Ausflüge zu Erlebnissen werden, darüber haben sich die US-amerikanischen Wissenschaftler und Brüder Chip und Dan Heath Gedanken gemacht. In ihrem Buch «The Power of Moments» (dt. «Die Kraft der Momente») nennen sie Erfolgsfaktoren wie «Erhöhung» und «Momente des Stolzes». Übersetzt auf Lias Eisbad: Die 15-Jährige musste ihren Einsatz übers Alltägliche hinaus erhöhen, um danach umso stolzer aus dem Fluss zu kraxeln. Wenn wir uns später an unsere Kindheit erinnern, dann oft an solche Momente.
Naturspektakel Ruinaulta
Auf dem zehn Kilometer langen Flusslauf von Versam nach Reichenau folgen auch ruhigere Passagen. Wo die bizarren Felsformationen der Rheinschlucht gen Himmel ragen, wandern die Blicke der Jörgers in die Höhe. In diesen Momenten glänzt Alessandro nicht nur als Kapitän, sondern auch als Naturführer, erzählt beispielsweise, wie jung die Rheinschlucht ist – vor nicht einmal 10’000 Jahren ist sie entstanden. Zu dieser Zeit wurden in der Türkei bereits Rinder domestiziert und auf Zypern Katzen. Und in Flims stürzten sieben Kubikkilometer Fels in die Tiefe, liessen den Rhein zu einem See anstauen, bis sich dieser mit der Zeit den Weg durch die Schuttmassen bahnte, die Rheinschlucht. Heute ist diese ein Naturparadies mit Wanderwegen, die oft direkt am Ufer entlangführen. Nur der Abschnitt zwischen der Isla Bella Brücke und der Hängebrücke Punt Ruinaulta ist gänzlich naturbelassen. Hier nisten auf Kiesbänken seltene Vögel wie Flussuferläufer und Flussregenpfeifer, die sich mit Glück vom Boot aus beobachten lassen.
Öko: im Zug zurück
Kurz vor Reichenau kündigt eine alte Eisenbahnbrücke das Ende der gut einstündigen Flussfahrt an. Die Jörgers paddeln kräftig Richtung Ufer, springen an Land und ziehen das Boot aus dem Wasser. Alessandro öffnet die Ventile – die Luft ist raus und nach diesem Erlebnis auch ein bisschen bei den Jörgers. Noch ein letzter Kraftakt steht bevor: Das Boot wird in einen Bollerwagen gehievt, zum Bahnhof Reichenau gezogen und in den nächsten Zug Richtung Versam verladen. Stolz erklärt Alessandro, dass die Kanuschule Versam seit ihrer Gründung 1989 möglichst ökologisch funktioniert: Alle Kanus und Boote werden mit dem Zug zurücktransportiert.
Auf der kurzen Bahnfahrt wird es dann noch einmal richtig heiss. Wie viele weitere Passagiere, die in Reichenau in den Zug steigen, stecken auch die Jörgers immer noch im Neoprenanzug. Jetzt würde selbst Lia gern noch einmal in den eiskalten Vorderrhein springen.
Und noch ein Tipp – als Sahnehäubchen light sozusagen: In der nächsten Podcast-Folge «Allegra» ist die Ernährungsberaterin Germaine Sandoval zu Gast. Dieses Mal dreht sich alles ums Thema Essen bei den Kleinsten.