«Ich hätte mir viele unnötige Stressmomente sparen können, wenn frauenspezifische Themen in der Sportausbildung genauso normal gewesen wären wie Muskelaufbau oder eine gesunde Ernährung», sagt die ehemalige Spitzenlangläuferin Seraina Boner. Als aktive Athletin war sie jahrelang Einzelkämpferin im Schweizer Frauenteam, ausschliesslich mit männlichen Trainern. Veränderungen im weiblichen Körper und was ein solcher Körper braucht, um Leistung erbringen zu können, wurden nicht thematisiert. Fragen wie ‘Ist es normal, dass ich über Jahre keine Periode habe?’ blieben für damalige Spitzensportlerinnen unbeantwortet.
Ihre Schwester Katja Gruber-Boner ist seit 2016 am Sportgymnasium Davos als Langlauf- und Biathlontrainerin tätig. «Wenn sich jemand bereits vor der Matura entscheidet, mit dem Sport aufzuhören, sind es häufig Mädchen. Oft haben diese mit frauenspezifischen Themen zu kämpfen.» Die Austrittsquote deckt sich mit den Erkenntnissen der umfangreichen Studie «Sport Schweiz 2020» des Bundesamts für Sport. Diese hält fest, dass verhältnismässig mehr Mädchen im Verlauf der Pubertät aus einem Sportverein austreten als bei den Jungen. Katja und Seraina wollen dieser Entwicklung mit «Powerina» Gegensteuer geben.
Quote
«Wenn sich jemand bereits vor der Matura entscheidet, mit dem Sport aufzuhören, sind es häufig Mädchen.»
Powerina-Camps
Ein Kernelement von Powerina sind die Camps. Während vier Tagen sollen 13- bis 16-jährige Mädchen einen positiven Zugang zum eigenen Körper bekommen und ihr Selbstwertgefühl stärken. «Einerseits geht es um polysportive Aktivitäten, bei denen das Erlebnis im Vordergrund steht und der soziale Zusammenhalt gestärkt wird», erklärt Katja. «Andererseits möchten wir die mentalen Fähigkeiten der Mädchen fördern, etwa durch Yogastunden, Achtsamkeitstrainings oder Vorträge von Expertinnen und Experten.» Zentral sind dabei auch die ‘Powerina-Idols’, denn Vorbilder haben in diesem Alter eine wichtige Funktion. Bisher konnten die drei aktiven Langlaufathletinnen Alina Meier, Lea Fischer und Desirée Steiner als Powerina-Botschafterinnen gewonnen werden. In den Camps werden sie ihre Erfahrungen mit den Mädchen teilen.
Anlaufstelle für Fragen und Unsicherheiten
«Powerina» ist aber auch Anlaufstelle für Mädchen im Alter zwischen 17 und 20 Jahren, die bereits Leistungssport betreiben. «Hier möchten wir fokussierter frauenspezifische Themen ansprechen und Hilfestellungen geben, denn hier besteht klar ein Bedarf», sagt Seraina Boner. Im Rahmen ihres Masterstudiums absolvierte sie ein Praktikum im norwegischen Trondheim, wo sie an einem Projekt mitarbeitete, das den Einfluss des weiblichen Zyklus auf den Spitzensport untersuchte. «In der Befragung gaben 80 Prozent der angehenden Spitzensportlerinnen an, das sie sich nicht trauen, mit ihrem Trainer über zyklusbedingte Beschwerden oder Schmerzen zu reden.» Diese Zahl ist umso bemerkenswerter, da sowohl Seraina als auch Katja Norwegen als fortschrittlich im Umgang mit frauenspezifischen Themen im Sport bezeichnen.
Quote
«80 Prozent der angehenden Spitzensportlerinnen trauen sich nicht, mit ihrem Trainer über zyklusbedingte Beschwerden oder Schmerzen zu reden.»
Aufklärungsbedarf gibt es aber nicht nur bei den Athletinnen im Nachwuchsleistungssport, sondern auch in ihrem Umfeld. In ihrer Tätigkeit als Trainerin am Sportgymnasium Davos weiss Katja Gruber-Boner, dass etwa viele Eltern von ihren Kindern Höchstleistungen erwarten. «Die Mädchen beginnen das Sportgymnasium im Alter von 14 Jahren. Ihr Körper verändert sich im Laufe der weiteren Schuljahre und bei gewissen stagniert die Leistung. Eltern müssen verstehen können, warum das so ist. Denn es ist physiologisch erklärbar.» In Workshops werden den Eltern, aber auch Trainerinnen und Trainern sowie Verantwortlichen von Sportschulen Fragen beantwortet und Unsicherheiten rund um frauenspezifische Themen im Sport genommen. In einem regelmässig erscheinenden Podcast möchten die Gründerinnen zudem zusammen mit Vorbildern und Fachleuten auf frauenspezifische Themen aufmerksam machen und ihre Erfahrungen teilen.
«Powerina» ist zunächst auf die Sportarten Langlauf und Biathlon ausgerichtet. Die Schwestern möchten das Projekt aber zu gegebener Zeit auf andere Sportarten ausweiten. «Uns liegt der Sport und eine nachhaltige Förderung von jungen Frauen am Herzen.» Eine Herzensangelegenheit, die ÖKK gerne unterstützt.
Die Gründerinnen: Katja Gruber-Boner und Seraina Boner
Katja ist ausgebildete Sportphysiotherapeutin und Trainerin Leistungssport. Als Sportphysiotherapeutin betreute sie während fünf Jahren ein internationale Langlauf-Langdistanzteam. Drei weitere Jahre war sie als Managerin dieses Teams tätig. Am Sportgymnasium Davos ist sie seit 2016 Cheftrainerin in den Disziplinen Langlauf und Biathlon.
Seraina hat einen Master in Sportwissenschaften mit Ausrichtung Spitzensport und studierte Sportpsychologie und Coaching in Norwegen. Über ein Jahrzehnt war sie aktive Langlaufathletin. Sie nahm an zwei Olympischen Winterspielen und vier Weltmeisterschaften teil. Heute unterrichtet sie Sport an diversen Schulen in Davos und ist als Langlauftrainerin im Biathlonstützpunkt Ostschweiz sowie als Langlaufausbildungsleiterin an der Schneesportschule Davos tätig.