Am liebsten spielten sie nach der Schule Fangen auf den Heuballen, die ein Landwirt extra für die Teenager sicher gestapelt hatte. Oft machten sie auch Schnitzeljagd durchs Dorf oder trafen sich für ein Uno bei jemandem aus der Clique zuhause. Und immer freitags, aber nur im Winter, lud der Lehrer zum Kinoabend. Einen Jugendtreff, ein Hallenbad oder gar eine Bowlingbahn gab es nicht im Dorf. Zigaretten, Alkohol oder Cannabis auch nicht – jedenfalls nicht für sie. Sie, das waren all jene aus Müstair mit Jahrgang 1999. Sieben Teenager gehörten zur Bande. Flurina Fallet war eine von ihnen.
Töffli vor Handy
«Einmal fragten uns Schüler, die in Müstair in einem Lager waren, ob wir hier eigentlich auch Handys hätten», erzählt die heute 23-jährige Flurina Fallet und lacht. Natürlich hatten sie, ihre Freundinnen und Freunde Handys, vielleicht einfach etwas später als andere. Sie selbst bekam ihr erstes eigenes Telefon in der siebten Klasse.
Viel wichtiger als das Handy war für Flurina Fallet ohnehin etwas anderes: das Mofa. Sie hatte ihres von Nini, dem Grossvater, geerbt. Alle aus der Clique besassen ein Töffli. Und so traf man sich im Sommer jeweils bei der dorfansässigen Autogarage, um gemeinsam in die Oberstufe nach Santa Maria zu fahren. Im Konvoi machte der drei Kilometer lange Schulweg viel mehr Spass als im Bus.
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«Einmal fragten uns Schüler, die in Müstair in einem Lager waren, ob wir hier eigentlich auch Handys hätten.»
Ob Schulweg oder Freizeit: Flurina Fallet und ihre sechs Freundinnen und Freunde waren wie Pech und Schwefel, wuchsen an- und miteinander. Es hätte ewig so weitergehen können – doch das Erwachsenwerden machte auch vor den hohen Bergen nicht Halt.
Die grosse Frage
Die Berufswahl katapultierte Flurina Fallet und ihre Freundinnen und Freunde vor die entscheidende Frage: bleiben oder wegziehen? Viele aus der Clique nahmen Lehrstellen im Unterland an, in Zug und St. Gallen zum Beispiel. Flurina Fallet wollte nicht weg. Also suchte sie eine Lehrstelle im KV, die gab es auch im Val Müstair. Sie schnupperte bei ÖKK und einer Bank, bekam aber Absagen. Hätte sie nur früher mit der Suche begonnen! Da entdeckte Flurina Fallet eine noch offene Lehrstelle als Pflegefachfrau – allerdings nicht im Gesundheitszentrum von Santa Maria, sondern in Chur.
Aus den Bergen in die Stadt
Chur! Natürlich, Flurina Fallet war mit ihren Eltern auch schon in der zwei Autostunden entfernten Stadt gewesen, etwa drei-, viermal pro Jahr zum Einkaufen. Aber würde sie es schaffen, allein weiterzuwachsen und ihre vertraute Welt zurückzulassen: Familie und Freundeskreis, das Haus mit Garten, Katzen und Kaninchen, ihr geliebtes Val Müstair?
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«Meine Eltern fuhren mich ins Studierendenwohnheim mitten in Chur, mein neues Zuhause. Als sie sich verabschiedeten, wollte ich nur eins: kehrtum machen und mit ihnen heimfahren.»
Flurina Fallet wollte es probieren und freute sich sogar ein klein wenig auf das Abenteuer. «Bis es richtig losging», erinnert sich Flurina Fallet. «Meine Eltern fuhren mich an jenem 1. August ins Studierendenwohnheim mitten in Chur, mein neues Zuhause. Als sie sich verabschiedeten, wollte ich nur eins: kehrtum machen und mit ihnen heimfahren. Es war schrecklich!» Flurina Fallet aber blieb und meldete sich tags darauf als neue Lernende auf ihrer Spitalstation. Sie, die bislang alles in Obhut ihrer Familie und ihrer Clique angepackt hatte, war ab sofort auf sich allein gestellt.
Ungewohnt: Hektik und Einsamkeit
«Ich musste so viel lernen und war komplett überfordert», sagt Flurina Fallet. «In Müstair hielt ein einziger Bus pro Stunde, in Chur fuhren dutzende Busse. In Müstair sprach ich Jauer, eine rätoromanische Mundart, in Chur dann Deutsch. Am meisten aber litt ich unter der Hektik und der Einsamkeit.» Balsam gegen das Heimweh war ihr Kornett, auf dem sie fleissig für die Proben mit dem Musikverein Concordia Müstair übte. Trost spendeten die von ihrem Vater geschreinerten Möbel aus Arvenholz, die den Duft von zuhause verströmten. Und Kraft gab ihr die Freundschaft zu einer anderen Lernenden aus dem Studierendenwohnheim, die ebenfalls aus einem Bündner Bergdorf stammte und genauso im Stadtrummel unterzugehen drohte wie sie.
Flurina Fallet gab sich alle Mühe und stand doch immer wieder kurz davor, ihre Ausbildung abzubrechen. Es waren ihre Eltern, die sie dann zum Durchhalten anspornten – obwohl sie selbst, wie sie später eingestanden, mit dem frühen Wegzug ihrer Jüngsten haderten.
Von Müstair in die Welt
Heute wohnt Flurina Fallet in einer WG in Igis, einem Dorf in der Nähe von Chur. Aus dem eher scheuen Küken ist zwar kein frecher Stadtfuchs geworden, aber eine selbstständige junge Frau. Sie findet sich im Leben zurecht und weiss längst, wo die Recyclingstelle ist, wohin Bus 2 fährt und wie man Curry kocht.
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«Der Wegzug mit 16 Jahren hat mich mutiger, selbstsicherer und offener gemacht.»
«Rückblickend war für mich der Schritt aus dem Tal sehr wichtig», resümiert Flurina Fallet. «Bekannte sagen mir oft, ich wirke älter, als ich eigentlich bin. Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich so plötzlich und schnell erwachsen werden musste.» Der Wegzug mit gerade mal 16 Jahren habe sie mutiger, selbstsicherer und offener gemacht. So mutig, dass sich Flurina Fallet im Sommer 2021 einen Traum erfüllte: Sie arbeitete einen Monat lang in einem Spital in Rhotia, Tansania.
Als Teenager war Flurina Fallet in ihr Tal verliebt, heute ist sie verliebt in die Welt. «Zuhause» aber ist über all die Jahre Müstair geblieben – bei ihrer Familie, ihrer Clique und ihrem Partner. Freie Tage und Ferien verbringt Flurina Fallet im Tal. Und eines Tages will sie ganz zurückkehren. Gut möglich, dass sie dann die Stadt vermissen wird. Sicher ist: Sie wird der Zukunft gewachsen sein.