An manchen Tagen sprudelt Radprofi Marlen Reusser vor Energie und ist kaum zu bremsen, an anderen fühlt sie sich müde und möchte am liebsten eins: ganz viele Nussgipfel essen. Inzwischen weiss Marlen Reusser, was sehr oft hinter solchen Extremen steckt: ihr Zyklus. Darum hört sie ganz genau auf ihren Körper und nimmt so gut es geht Rücksicht auf ihn, unter anderem mit zyklusorientiertem Training.
Marlen Reusser, sind Sie und Ihr Körper ein gutes Team?
Allerdings! Seit ich intensiv Sport treibe, haben wir zwei ja auch schon einiges zusammen erlebt: Erfolge, Druck, Stress, Diäten, Verletzungen sowie heftige Trainings- und schöne Erholungsphasen. Ich habe meinen Körper immer genau beobachtet und dabei viel über ihn gelernt.
Haben Sie auch herausgefunden, was Ihnen hilft bei Regelschmerzen?
Mir hilft, sofort eine Schmerztablette zu schlucken, also gleich beim ersten Ziehen. Oft reicht eine Tablette, manchmal brauche ich noch eine zweite. Wichtig ist, dass ich mich nicht auf die Schmerzen fokussiere; das macht sie nur noch schlimmer. Besser ist, wenn ich mich ablenke.
Womit?
Bei mir wirkt Bewegung am besten. Mein Geheimrezept: mit einer Wärmepackung oder einer Schicht wärmender Creme an Bauch und Rücken aufs Rad steigen. Das mache ich natürlich nicht im Hochsommer.
Sie nehmen Rücksicht auf Ihren Zyklus – auch beim Training?
Als ich 2017 meine erste Lizenz löste und mit strukturiertem Training begann, sprach noch niemand über zyklusorientiertes Training – weder mein damaliger Trainer noch die anderen Athletinnen. Aufmerksam machten mich dann die Vorträge von Swiss Cycling zum Thema «Frau und Sport». Später sprach mich mein aktueller Trainer Marcello Albasini auf das zyklusorientierte Training an. Er hatte eine wissenschaftliche Publikation darüber gelesen.
Wie sieht ihr zyklusorientiertes Training heute aus?
Nach Möglichkeit lege ich hochintensive Trainings und schwere Krafttrainings auf die erste Zyklushälfte. Das ist jedoch leider längst nicht immer möglich. In der zweiten Zyklushälfte dann gebe ich mir alle Mühe, nett und fürsorglich zu mir zu sein. Sehr oft hängt meine Trainingsleistung aber weniger von meiner körperlichen Verfassung ab, als viel mehr von meiner Einstellung. An manchen Tagen denke ich: «In diesem Zustand werden meine Sets an Intervallen kaum zu bewältigen sein.» Aber wenn ich dann mal auf dem Rad bin, geht es besser als gedacht.
Wo sehen Sie die grössten Vorteile des zyklusorientierten Trainings?
Für mich persönlich geht es insbesondere darum, mich meines Körpers mit seinen Grenzen und Bedürfnissen bewusst zu werden und diese zu respektieren. Wenn ich zum Beispiel an Tag vier meines Zyklus für bestimmte Intervalle viel mehr Power habe als noch vor acht Tagen, dann weiss ich, wo die Erklärung dafür liegen könnte. Ebenso wenn ich in Woche vier meines Zyklus müde bin, widerwillig und schlecht gelaunt aufs Rad steige und in einer Stunde sieben Nussgipfel verschlingen möchte.
Ist zyklusorientiertes Training im Frauenradsport eher Regel oder Ausnahme?
Manche Kolleginnen setzen ebenfalls auf zyklusorientiertes Training. Andere aber haben einen sehr unregelmässigen oder gar keinen Zyklus. In vielen Fällen liegt die Ursache auf der Hand.
Wie meinen Sie das?
Eine ausbleibende Menstruation gehört zu den Symptomen des Relativen Energiedefizit-Syndroms, kurz RED-S. Es wird ausgelöst durch eine ungenügende Versorgung mit Kohlenhydraten und kann zu hormonellen Störungen führen. Ich vermute, das RED-S ist stark verbreitet im Frauenradsport. Doch viele Athletinnen nehmen es nicht wahr – trotz meiner Meinung nach eindeutigen Symptome.
Vielleicht sind Sie als ausgebildete Ärztin sensibilisierter?
Mein Hintergrund hilft mir sicher dabei, Signale des Körpers zu lesen. Aber selbst mein System ist nicht gefeit vor Störungen. Auch ich habe Phasen mit RED-S durchgemacht. Damals redete ich mir schön, «es nicht zu übertreiben mit den Kohlenhydraten». In Wahrheit aber war ich gestresst und ass zu wenig.
Und heute?
Ich lege Wert darauf, genug Energie aufzunehmen und fühle mich in einem komplett gesunden Körper zuhause. Ich gönne mir grosse und ausgewogene Portionen bei den Hauptmahlzeiten und versuche, meinem Körper Gutes zu bieten. Am Vortag meines WM-Zeitfahrens 2020 habe ich zum Beispiel eine ganze Schachtel Pralinen, die mir meine Mutter gesendet hatte, verdrückt – und zwar mit Freude und gutem Gewissen! Denn mir ist bewusst, dass ich ab und zu solche Spässe brauche. Tags darauf wurde ich Vizeweltmeisterin im Einzelzeitfahren.
Und das, obwohl das Gewicht im Radsport ein bedeutender Faktor ist?
Unverkrampftheit und auch Genuss – das ist für mich die Basis. Ich schliesse aber nicht aus, in Zukunft einmal zu versuchen, meinen Körper auf ein Minimalgewicht zu bringen. Dabei werde ich aber meiner Statur immer Rechnung tragen und realistisch sein.
Mehr und anders zu essen als andere Athletinnen: Braucht das Mut?
Der Schritt braucht Überwindung, und ist gleichzeitig eine Befreiung. Denn es ist wirklich taff, an Trainings und Wettkämpfen alles zu geben, ständig unter mentalem Druck zu stehen – und bei all dem nur ganz wenig zu essen, um möglichst «lean», also schlank, zu sein. Dieses Streben nach extrem tiefem Körpergewicht stört mich sehr. Darum habe ich auch einen Brief an die Union Cycliste Internationale geschrieben.
Was stand darin?
Die Bitte, endlich eine BMI-Untergrenze zu implementieren. Es darf nicht sein, dass immer noch anorektische Athletinnen als Vorbilder gelten. Bis jetzt habe ich noch keine Reaktion auf mein Anliegen erhalten, trotz Nachfrage.
Die Quereinsteigerin
Marlen Reusser löste 2017 ihre erste Lizenz und wurde noch im gleichen Jahr erstmals Schweizer Meisterin im Einzelzeitfahren und Vize-Meisterin im Strassenrennen. Dass die heute 29-Jährige dereinst zur Sportelite des Landes zählen würde, war keinesfalls absehbar: Marlen Reusser ist in einer Bauernfamilie in Hindelbank BE aufgewachsen, spielte Geige und absolvierte in ihrer Jugend ein Förderprogramm an der Hochschule der Künste Bern. Sie lief, schwamm, machte Politik und engagierte sich für die Umwelt. Nach der Matura widmete sich Marlen Reusser einem Medizinstudium und arbeitete noch während der Vorbereitung für ihre erste Strassen-Weltmeisterschaft 2018 als Ärztin.
Quelle: zvg, Swiss Cycling