Mengia sitzt schon eine Weile da. Keiner fordert sie zum Tanz auf. Warum bloss ist sie hergekommen? Sie wusste doch, dass bei diesen Tanzabenden des Bündnervereins nur alte Männer sind. Mengia nippt am Glas, das längst leer ist, da steht er plötzlich vor ihr: ein junger Herr, grossgewachsen und mit einem netten Lächeln auf den Lippen. Mengia nimmt seine Hand und möchte sie nie wieder loslassen. Als die beiden sich gegen Mitternacht unter einer Laterne am Ufer des Zürichsees küssen, ist klar: Die Coiffeurlehrtochter Mengia Gallin aus St. Moritz und der angehende Elektromechaniker Eduardo Spreiter aus Castasegna – sie gehören ab jetzt zusammen. Das war am 4. Juli 1959. Ein Jahr später folgte die Hochzeit, im darauffolgenden Dezember die Geburt ihrer Zwillinge, im Frühling 1961 der Umzug von Zürich ins Bergell, in die Heimat von Eduardo Spreiter.
Kaffeerunden zu zweit
Heute sitzen Mengia (80) und Eduardo (82) Spreiter am Holztisch in ihrem Zuhause in Castasegna und trinken Kaffee.
Er: «Es war so einfach, sich in dich zu verlieben. Deine Beine, dein Stil, deine Grösse und deine Wärme!»
Sie: «Und du bist seit der ersten Minute mein bester Freund. Erinnerst du dich an meinen 19. Geburtstag? Ich hatte viele Gäste und wollte sie bekochen. Aber eine Konservendose ging nicht auf. Keiner schaffte es, die Dose zu öffnen. Nur du.»
Er: «Das ist dir geblieben?»
Sie: «Ja, denn in diesem Moment spürte ich, dass ich mich ganz und gar auf dich verlassen kann.»
Er: «Und heute?»
Sie: «Deine Zuverlässigkeit beeindruckt mich noch immer – und deine Geselligkeit.»
Er: «Und mir gefallen deine Intelligenz, deine Ehrlichkeit und dein Eifer.»
Mengia und Eduardo Spreiter reden gerne und oft miteinander. Zweimal am Tag trinken sie zusammen einen Kaffee, um 10 Uhr und um 22 Uhr. Dann tauschen sie sich über Urenkel, Kastanien, Politik, Reisepläne und Befindlichkeiten aus und sind einfach ein bisschen zusammen.
In guten wie in schlechten Zeiten
Es gab Zeiten, in denen das Reden beinahe zu kurz gekommen wäre. Er arbeitete Vollzeit im Elektrizitätswerk im Dorf, sie war Unternehmerin mit zwei Coiffeursalons, Expertin für Abschlussprüfungen von Coiffeuren im Kanton Graubünden und Gemeindepräsidentin von Castasegna.
Sie: «Heute leben viele Paare in den Tag hinein. Das erstaunt mich. Ich hatte immer Ziele.»
Er: «Du bist von jeher engagiert. Die Kinder waren noch klein, da hast du den Turnverein gegründet.»
Sie: «Und später war ich beruflich viel unterwegs.»
Er: «In deinem Sportwagen!»
Sie: «Dann hast du auf die Kinder aufgepasst und mir den Rücken freigehalten.»
Es gab aber auch Zeiten, in denen das Reden essenziell war. Wie damals, als eine der drei Töchter dreijährig an einer Herzschwäche starb. Das war eine schwere Zeit für die Familie und eine Bewährungsprobe für Mengia und Eduardo Spreiter als Paar. Die beiden redeten, spazierten, redeten – und schafften es, an der Tragödie gemeinsam zu wachsen.
Auf dem Prüfstand
Schicksalsschläge können Paare zusammenschweissen – oder auseinanderreissen. Die grössten Fallgruben für eine Beziehung verstecken sich aber nicht in schlimmen Ereignissen, sondern im Gegenteil: im Alltag. Wenn man ständig nörgelt, einander kritisiert, nachtragend ist und einander keine Wertschätzung entgegenbringt, ist das Liebesglück in Gefahr. «Erfährt ein Paar einen Schicksalsschlag, ist es alarmiert: Jetzt wird unsere Liebe geprüft», sagt Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello. «Respektloses Verhalten hingegen schleicht sich unbemerkt in eine Beziehung ein und ist darum besonders gefährlich. Oft bemerkt man es erst spät.»
«Auseinanderleben» ist laut Studien der meistgenannte Scheidungsgrund. Besonders brenzlig wird es nach 15 Jahren Ehe und wenn die Ehepartner um die 50 Jahre alt sind – dann kommt es laut Bundesamt für Statistik zu den meisten Scheidungen. In der Schweiz werden vier von zehn Ehen geschieden, was dem europäischen Mittelfeld entspricht. Was aus historischer Perspektive interessant ist: Vor 35 Jahren wurde zwar weniger häufig geschieden (drei von zehn Ehen), dafür aber schneller (nach 11,5 Jahren Ehe statt nach 15,2 Jahren (2018)).
Trennung höchstens am Hochzeitstag
Auch im Hause Spreiter gab es bessere und schlechtere Zeiten. Doch eine Scheidung kam nie infrage. Mengia Spreiters Eltern hatten sich getrennt, als sie 18 Jahre alt war. Vor Enttäuschung schwor sie sich, es selbst nie zu einer Scheidung kommen zu lassen. Sie handelte mit ihrem Mann sogar aus, dass eine Trennung nur alle fünf Jahre, und zwar exakt am Hochzeitstag, diskutiert werden könne. Damit wollte sie sicherstellen, dass in Krisenzeiten nichts überstürzt und dem Ringen um die gemeinsame Zukunft genug Zeit eingeräumt wird.
Sie: «Einmal habe ich dir am Hochzeitstag einen eingeschriebenen Brief geschickt.»
Er: «Ich bin blass geworden vor Angst! Ich dachte, es sei ein Brief von deinem Anwalt. Dabei war es ein Liebesbrief.»
Sie: «Das mache ich nie wieder, versprochen.»
So lange wie möglich
Nach so vielen Jahren der Zweisamkeit sind die Schmetterlinge im Bauch von Mengia und Eduardo Spreiter verflogen; sie haben einer tiefen Verbundenheit Platz gemacht. Manchmal erschrecken die beiden, wenn sie in demselben Moment das Gleiche sagen wollen. So gut kennen sie einander, so sehr sind sie eins geworden.
Die Zeit der körperlichen Liebe ist vorbei. Aber am Abend im Bett rutschen sie gerne zusammen und halten sich gegenseitig warm. Manchmal taucht die Angst auf, einander zu verlieren. Aber so lange sie noch fit sind, wollen Mengia und Eduardo Spreiter geniessen: ihre Familie, ihr Tal, ihr Leben. Und tanzen wollen sie, immer weitertanzen, bei jeder Gelegenheit, so wie einst vor über 60 Jahren.
Warum Liebe die beste Medizin ist – Fünf Fakten
- Eine glückliche Beziehung stärkt das Immunsystem. Hingegen kann eine unglückliche krank machen.
- Bei einer Umarmung wird das Antistresshormon Oxytocin ausgeschüttet.
- Händchenhalten stärkt das Herzkreislaufsystem.
- Heiraten verlängert das Leben – insbesondere von Männern: In westlichen Industrienationen leben Ehemänner etwa acht Jahre länger als Junggesellen.
- Küssen senkt den Blutdruck und Schmusen aktiviert unsere Selbstheilungskräfte.
Experteninterview mit Pasqualina Perrig-Chiello
Pasqualina Perrig-Chiello, waren Beziehungen früher einfacher?
Die Vorstellung, dass eine Beziehung auf Liebe beruhen soll, hat sich erst im 19. Jahrhundert gefestigt. Dieses romantische Konzept ist schön, aber verpflichtend: Was, wenn die Liebe verschwindet? Hat eine Beziehung dann noch Sinn? Unsere Ansprüche sind stark gewachsen. Kommt hinzu, dass «Bis dass der Tod uns scheidet» heute eine ganz andere Bedeutung hat als vor 100 Jahren. Damals betrug die durchschnittliche Lebenserwartung 54 Jahre, heute 83. Man kann oder muss es länger miteinander aushalten.
Was sind die Ingredienzen für eine glückliche Beziehung?
Ganz wichtig sind Kommunikation, Wertschätzung und Humor. Am allerwichtigsten ist aber, sich weiterzuentwickeln – und zwar gleichermassen als Paar und als Individuum.
Was heisst das konkret?
Liebe ist keine Konserve. Sie will immer wieder neu definiert werden – besonders, wenn sich die äusseren Umstände ändern, zum Beispiel wegen der Geburt eines Kindes, eines Jobverlusts oder der Pensionierung. Wer stehenbleibt, riskiert Langeweile und Trott. Das ist Gift für eine Beziehung.
Quote
«Liebe ist keine Konserve»
Wie definiert man Liebe neu?
Indem man sich als Paar immer wieder bewusst Zeit und Raum nimmt für eine Standortbestimmung. Liebevoll werden Fragen geklärt wie «Was sind deine Bedürfnisse?», «Was sind unsere Bedürfnisse?», «Was sind die gemeinsamen Ziele?» und «Was ist uns wichtig?».
Was, wenn es dennoch irgendwann kriselt?
Krisen gehören zu einer Beziehung dazu. Sie sind Vorboten des Wandels und weisen uns darauf hin, dass in einer Beziehung etwas nicht mehr funktioniert und verändert werden muss. Jetzt bietet sich die Chance, das Steuer herumzureissen – diese Gelegenheit darf nicht ungenutzt bleiben. Denn Liebe ist unglaublich kostbar.
Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello
Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello war Honorarprofessorin der Universität Bern und ist Autorin zahlreicher Studien und Bücher wie «Wenn die Liebe nicht mehr jung ist».