Stopp!» Der Dirigent senkt die Arme, der Chor verstummt. Betretenes Schweigen füllt den Raum. «Das Lied heisst ‹Clera Notg›!», ruft Christian Klucker den 20 Sänger*innen des Vokalensembles «incantanti» entgegen. «Ihr müsst diese sternenklare Nacht hoch oben in den Bergen spüren, die ihr da besingt! Sonst glaubt euch das niemand!»
Klucker weiss: Es ist Freitagabend, die Chormitglieder sind direkt von der Schule oder Arbeit angereist. Ihre Köpfe sind irgendwo, nur nicht hier, im Festsaal des Seniorenheims Cadonau in Chur, wo in einer Stunde das Konzert beginnt. So viel
Zeit bleibt Klucker, um die Köpfe seiner Schützlinge für die Musik und das gemeinsame Singen freizumachen.
Gefühle wecken
Auch Andri Simeon war vor zwei Stunden geistig noch ganz woanders. Der 26-jährige Tenor ist hauptberuflich ETH-Student und schreibt derzeit seine Masterarbeit in Data Sciences. Big Data sind sein Ding, er beherrscht doppelt so viele Programmier-
wie Fremdsprachen, bezeichnet sich selbst als «Kopfmenschen» und ist eben darum in seiner Freizeit Chorsänger. «Das Singen eröffnet mir die Welt der Gefühle», sagt er.
Von dieser Welt ist der Chor im Moment jedoch noch weit entfernt. Deshalb schlägt Klucker vor, das nächste Lied mit geschlossenen Augen zu singen. So will er die Konzentration auf das gemeinsame Singen schärfen. Denn im Ideal sind im Chor keine Einzelstimmen mehr zu hören, sondern nur das gemeinsame Ganze.
Musik macht glücklich
Der Trick funktioniert. Nach wenigen Sekunden vereinen sich die Einzelstimmen zu einem einzigen, mehrschichtigen Klangkörper. Man sieht es Andri Simeon an: Nun ist er in der Musik. Sein ganzer Körper singt mit. Und als dann die Sopranistinnen einstimmen, huscht sogar ein Lächeln über sein Gesicht. «Sehr schön, jetzt fliesst es!», ruft Klucker.
Generalprobe beendet.
Dass musizieren oder auch nur Musik hören positive Gefühle auslöst, zeigen nicht nur die Erfahrungen der Musizierenden, sondern auch wissenschaftliche Studien. So fanden Forschende der Universität Marburg heraus, dass das gemeinsame Singen im Chor die Stimmung verbessert und Stress abbaut. Eine Ursache dafür liegt darin, dass das Musizieren oder aktive Hören von Musik zu einer verstärkten Ausschüttung des «Glückshormons» Dopamin und des «Kuschelhormons» Oxytocin führen. Der Neurowissenschaftler Prof. Lutz Jäncke von der Universität Zürich hat festgestellt, dass angenehme Musik das Lustzentrum im Gehirn aktiviert und Depressionen entgegenwirkt. Er empfiehlt, täglich eine Stunde bewusst Musik zu hören.
Musik – ein Grundbedürfnis?
Das Faszinierende ist, dass Hormone wie Oxytocin und Dopamin normalerweise ausgeschüttet werden, wenn Menschen ihren evolutionsbiologisch existenziellen Grundbedürfnissen nachkommen – zum Beispiel beim Sex. Aber Musik? Eine These
ist, dass eben auch Musik ein menschliches Grundbedürfnis befriedigt: ein Kulturbedürfnis.
Vielleicht gehört deshalb das Singen zur Alltagskultur vieler Dörfer, so zum Beispiel in Lantsch/ Lenz im Kanton Graubünden, wo Andri Simeon aufgewachsen ist. Schon sein Grossvater war dort Chorleiter, sein Vater singt heute noch in zwei Männerchören, und Simeon selbst singt, seit er denken kann – am liebsten Lieder aus der reichen rätoromanischen Literatur. Bei seinen Grosseltern hat Simeon zudem eine interessante Beobachtung gemacht: «Die Menschen vergessen im Alter vieles, nie aber ihre Lieder.» Auch diese Erkenntnis wird empirisch bestätigt und musiktherapeutisch genutzt. Denn das Singen und Lieder aktivieren andere Hirnregionen als das Sprechen. So reagieren demente, apathische Senior*innen oft heftig auf ihre Lieblingslieder. Und in Aphasiechören singen Menschen, die zum Beispiel aufgrund eines Schlaganfalls kaum noch sprechen können. Für sie alle werden Singen und Musik zu «Inseln der Identität und Sicherheit», wie der Arzt Prof. Eckart Altenmüller sagt.
Zu Tränen gerührt
Punkt 19.00 Uhr tritt das Vokalensemble «incantanti » auf die Bühne. Wer sich ein Bild von der Wirkung von Musik machen will, kann sich in den nächsten beiden Stunden im Festsaal umschauen. Als das ausverkaufte Konzert mit Brahms «Oh Heiland, reiss die Himmel auf» eröffnet wird, füllen sich bei den ersten Zuhörenden die Augen mit Tränen, danach ziehen vier rätoromanische Lieder das Publikum endgültig in den Bann.
Der Puls springt über
Man sagt, der Funken springe über. Doch beim Chorsingen sind es eher die Herzschläge, die überspringen: Untersuchungen zeigen, dass sich der Puls der Singenden nach wenigen Minuten angleicht. Und Christian Klucker ist überzeugt, dass diese Synchronisierung auch die Zuhörenden erfasst. «Sie werden eins mit uns und spüren unsere Emotionen», sagt er. Nach dem Konzert steht das Publikum Schlange bei Christian Klucker, um ihm zu danken und ihn wissen zu lassen, wie glücklich das Konzert sie gemacht habe. Und Andri Simeon? Steht strahlend mit seiner Freundin neben der Bühne. Big Data? Big Feelings!
Das Vokalensemble «incantanti»
«incantanti» wurde 2002 von Christian Klucker gegründet und zählt heute 25 Sänger*innen zwischen 15 und 26 Jahren. Der Name kommt vom Italienischen «incantare», «verzaubern». In der Weltrangliste der Jugendchöre belegt «incantanti» den zwölften Platz. incantanti.ch