In der Schweiz entwickeln rund 300'000 Menschen im Laufe ihres Lebens eine Essstörung. Das sind 3,5 Prozent der Bevölkerung. Ein grosser Teil davon leidet an Binge Eating. Das ist eine Essstörung, bei der Betroffene Essanfälle erleiden und das Gefühl haben, ihr Essverhalten nicht kontrollieren zu können. Dr. med. Patrick Pasi, Leiter des Zentrums für Essstörungen am Universitätsspital Zürich, erklärt, wie Binge Eating entsteht und wie Betroffene den Teufelskreis durchbrechen.
Herr Pasi, wie macht sich eine Binge-Eating-Störung bemerkbar?
Fast alle essen mal über den Hunger hinaus. Anders ist die Situation bei krankhaften Essanfällen. Betroffene essen bei einer Binge-Eating-Störung innert kürzester Zeit eine sehr grosse Menge. Während des Essens haben sie das Gefühl, nicht aufhören zu können – es kommt zum Kontrollverlusterlebnis. Diese unkontrollierten Essanfälle treten mindestens einmal pro Woche auf.
Was lösen Essanfälle bei Betroffenen aus?
Weil der Magen völlig überfüllt wird, fühlen sich Betroffene unwohl. Im Gegensatz zur Bulimie wird nicht versucht, den Mageninhalt durch Erbrechen wieder von sich zu geben. Es entstehen Ekelgefühle gegenüber sich selbst, Deprimiertheit oder Schuldgefühle. Betroffene lösen damit einen immensen Druck auf sich selbst aus.
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«Häufig sind es Perfektionist*innen, die eine Essstörung entwickeln.»
Binge Eating und Perfektionismus – wie passen diese Gegensätze zusammen?
Perfektionismus spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Binge Eating – und auch von anderen Essstörungen. Betroffene setzen sich selbst enorm unter Druck, weil sie ständig das Gefühl haben, bestimmte Erwartungen erfüllen zu müssen – sei es im Beruf, im sozialen Umfeld oder in Bezug auf ihren Körper. Wenn sie einen Essanfall nicht verhindern können, empfinden sie das als persönliches Versagen, was die Schuld- und Ekelgefühle verstärkt.
Sind Verabredungen zum Mittag- oder Abendessen noch möglich?
Die ständigen Selbstvorwürfe und die Angst, nicht perfekt zu sein, führen oft dazu, dass sich Betroffene zunehmend sozial isolieren. Sie vermeiden gemeinsame Mahlzeiten oder soziale Treffen, um ihre Essanfälle zu verbergen und sich vor den vermeintlichen Urteilen anderer zu schützen. Lassen sich Treffen nicht umgehen, werden in Gesellschaft nur ganz kleine Menge gegessen.
Laut Statistik leiden mehr Frauen als Männer an einer Essstörung. Weshalb scheinen Frauen anfälliger dafür zu sein?
Frauen stehen heute oft vor der Herausforderung, traditionelle Erwartungen zu erfüllen, während sie gleichzeitig neue Rollen und Verantwortungen übernehmen. Das führt zu einem erhöhten Druck, der sich auch auf den eigenen Körper und das Aussehen auswirkt. Das gesellschaftliche Schönheitsideal – ein schlankes und makelloses Körperbild – ist dabei nicht förderlich.
Drei Warnsignale
- Sie essen allein, damit sich andere Menschen nicht über Ihre grosse Essensmenge wundern
- Sie essen innert kurzer Zeit eine grosse Menge – obwohl Sie keinen Hunger haben.
- Sie leiden nach dem Essen an einem unangenehmen Völlegefühl, sind deprimiert oder empfinden Ekel gegenüber sich selbst.
Nehmen Sie diese drei Warnsignale wahr, kann eine Ernährungsberatung als erster Schritt sinnvoll sein.
Dennoch sind auch Männer von Essstörungen betroffen.
Ja, auch bei Männern lässt sich eine Zunahme feststellen. Das typische Männerbild verändert sich und die Anforderungen an Männer sind vielfältiger geworden. Der Adonis-Komplex (Muskelsucht) ist eine Essstörung, die vor allem Männer betrifft. Betroffene trainieren exzessiv, um Muskelmasse aufzubauen und folgen strikten Ernährungsplänen. Das wiederum kann zu klassischen Essstörungen wie Magersucht oder Binge Eating führen. Wie bei allen Essstörungen liegt eine Körperschemastörung vor. Das heisst, Betroffene nehmen ihren Körper oder bestimmte Körperteile als falsch wahr.
Welchen Einfluss haben soziale Medien auf das Körperbild und die Entstehung einer Binge-Eating-Störung?
Heutzutage spielen soziale Medien eine grosse Rolle bei der Vermittlung von Schönheitsidealen, insbesondere bei Jugendlichen. Früher waren es Modezeitschriften, heute sind es Plattformen wie Instagram und TikTok, die ein unrealistisches Bild des «perfekten» Körpers zeigen. Besonders in der Pubertät, wenn sich der Körper verändert und die Persönlichkeit noch nicht gefestigt ist, sind junge Menschen anfällig für Unsicherheiten.
Was raten Sie jungen Menschen im Umgang mit Social Media, um sich vor negativen Einflüssen zu schützen?
Algorithmen merken sich, wofür sich Nutzer*innen interessieren und zeigen dann vermehrt ähnliche Inhalte wie beispielsweise Bilder von Fitnessmodels. Es gibt sogar Foren, in denen Essstörungen regelrecht zelebriert werden. Um den Algorithmus zu ändern, könnte man sich stattdessen nach harmlosen Inhalten wie Welpenvideos umsehen. Wird das eigene Körperbild zu stark negativ beeinflusst, ist ein radikaler Schritt sinnvoll und die App sollte idealerweise ganz gelöscht werden – bis ein gesundes Verhältnis zum eigenen Körper wiederhergestellt ist.
Abgesehen von den gegenwärtigen Schönheitsidealen: Welche Faktoren können ebenfalls zu Binge Eating führen?
Ein geringes Selbstwertgefühl, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und Stress. Menschen, die in Stresssituationen zu emotionalem Essen tendieren, sind eher dazu veranlagt, eine Binge-Eating-Störung zu entwickeln. Im ersten Moment sorgt das Essen bei Betroffenen für positive Empfindungen. Doch dann kann es nicht mehr gestoppt werden, auch wenn der Hunger längst gestillt ist.
Wann merken Betroffene, dass ihr Essverhalten nicht mehr gesund ist?
Da sie das Essen als Ventil nutzen und somit als Linderung sehen, nehmen Betroffene die Essstörung selten wahr. Vielmehr stellen sie körperliche Signale fest wie beispielsweise starkes Übergewicht und die damit verbundenen Folgen.
Was sind die gesundheitlichen Konsequenzen von Binge Eating?
Binge Eating hat psychische wie physische Folgen: psychische in Form von depressiven Störungen oder Angststörungen, physische in Form von Adipositas, also Übergewicht, und dessen Begleiterkrankungen. Dazu gehören Zuckererkrankungen, ein erhöhter Cholesterinspiegel, saures Aufstossen oder Gelenkprobleme.
Wo erhalten Betroffene Unterstützung?
Die Hemmschwelle, sich Hilfe zu holen, ist häufig gross. Es kann helfen, in einem ersten Schritt mit einer ärztlichen Fachperson über die Beschwerden zu sprechen. Auch ein*e Ernährungsberater*in kann eine erste Anlaufstelle sein. Eine Ernährungsberatung stellt häufig eine kleinere Hürde dar als eine Psychotherapie. Wichtig: Die Therapie von Binge Eating ist interdisziplinär. Das heisst, es braucht Fachpersonen aus der Ernährungsberatung, Psychotherapie und allenfalls auch eine*n Physiotherapeut*in.
Wie wird eine Binge-Eating-Störung behandelt?
Im Gespräch erkennen Fachpersonen den Kern der Störung. Das Adipositas Zentrum des Unispitals Zürich sowie gewisse Ernährungsberater*innen gehen anhand der Fragebögen des Zentrums für Essstörungen vor. Wird Binge Eating diagnostiziert, gibt es verschiedene Behandlungsansätze: Es gibt Verhaltenstherapien, die nicht mit Verboten arbeiten, sondern mit Plänen, um das Essverhalten wieder flexibler zu steuern. Daneben können Psychopharmaka zur Unterstützung eingesetzt werden. Eine Therapie fordert zwar Ausdauer, kann langfristig jedoch zu einer deutlich verbesserten Lebensqualität führen.
Zum Schluss: Welche Tipps geben Sie Angehörigen im Umgang mit Betroffenen?
Für Aussenstehende ist eine Binge-Eating-Störung oft kaum erkennbar, weil Betroffene meist heimlich und allein essen. Da Binge Eating mit einem hohen Schamgefühl verbunden ist, ist Feingefühl gefragt. Verzichten Sie auf Ratschläge oder Aussagen wie «Iss etwas weniger und bewege dich mehr». Stellen Sie Fragen, um das Vertrauen zu gewinnen und bieten Sie an, die betroffene Person zu einem Beratungsgespräch zu begleiten.
Dr. med. Patrick Pasi
Dr. med. Patrick Pasi, Leiter des Zentrums für Essstörungen und Oberarzt meV an der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich.