«Oft fielen mir mitten am Tag die Augen zu. So müde war ich. Manchmal weinte und zitterte ich, dass mir der Kugelschreiber aus der Hand fiel. Dann schloss ich mich in meinem Büro ein, häufig zwei Stunden lang. Wenn ich mich beruhigt hatte, trocknete ich die Augen und trat raus unter meine Leute, als wäre nichts gewesen. Ich war ehrgeizig, perfektionistisch und fühlte mich als Übermensch. Wenn andere Feierabend machten, legte ich erst richtig los – immer auf der Suche nach guten Zahlen und neuen Aufträgen. Nur allmählich fielen mir meine Erschöpfung und Lustlosigkeit auf. Aber ich schraubte mein Arbeitspensum nicht runter, sondern rauf. 90-Stunden-Wochen, sieben Tage die Woche – das war meine Normalität. Privat lief es nicht rund, und jede Nacht schlief ich weniger.»
Feuer und Flamme
Extreme Identifikation mit dem Job und übergrosses Engagement – zwei Merkmale, die nicht nur auf Max Rykart (50), Geschäftsführer einer Gerüstbaufirma, zutreffen. Sie sind typisch für Burnout-Betroffene, wie Dr. med. Henrik Berthel weiss. Der Vertrauensarzt von ÖKK blickt als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie auf jahrelange Erfahrung mit Burnout-Patienten zurück. «Ein treffendes Sprichwort lautet: ‹You can only burn out, if you are on fire.› Du kannst nur ausbrennen, wenn du selbst Feuer und Flamme bist.» So war es auch bei Max Rykart: Er brannte für seinen Job und war irgendwann selbst ausgebrannt.
Noch ist das Burnout per Definition keine Krankheit. Erst 2022 wird die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Burnout als Syndrom in ihren Katalog der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) aufnehmen. Die WHO umschreibt ein Burnout als ein Gefühl der Erschöpfung, eine innere emotionale Distanz oder negative Haltung zum eigenen Job als Folge von chronischem negativen Stress am Arbeitsplatz. Mögliche Anzeichen sind Appetit- und Schlaflosigkeit, sexuelle Lustlosigkeit, Reizbarkeit und Zynismus. Extremste Folge eines Burnouts können eine schwere Depression bis hin zum Suizid sein.
Ein Burnout kann alle treffen
«Der Tiefpunkt kam eines Nachts auf einer Bank am See. Ich wollte sterben. Nur: Unvorbereitet wie ich war, ging das für mich nicht. Ich hatte ja noch nicht einmal ein Testament geschrieben. Dieser Gedanke rettete mir das Leben. Ich fuhr nach Hause und schüttete tags darauf einer Freundin mein Herz aus – zum ersten Mal überhaupt. Sie drängte mich, professionelle Hilfe zu holen. Ich suchte den Hausarzt und den Psychiater auf und meldete mich in einer auf Burnouts spezialisierten Klinik an. Ausserdem informierte ich meine Mitarbeitenden, bald auch meine Freundinnen und Freunde. Alle waren schockiert, manche weinten. Ich aber spürte eine unglaubliche Erleichterung. Monatelang hatte ich ein Doppelleben geführt, um meine Schwäche zu vertuschen. Jetzt konnte ich sein, als was ich mich fühlte: ein Häufchen Elend.»
Laut Umfragen erleben 80 Prozent aller Arbeitnehmenden im Job negativen Stress. 50 bis 70 Prozent von ihnen leiden teilweise unter Burnout-Symptomen. Ob aus der Gastro- oder Baubranche, ob als Chefin oder als Handlanger, ob Teil- oder Vollzeitkraft – Burnout kann jede und jeden treffen. Ein achtsamer Lebensstil, bewusste Ernährung, Bewegung und erholsamer Schlaf können helfen, einem Burnout vorzubeugen. Die wirksamste Prävention ist laut Vertrauensarzt Henrik Berthel aber diese: «Nehmen Sie ernst, wenn jemand Sie auf Ihre Gereiztheit, Unkonzentriertheit oder sonst eine Veränderung Ihres Verhaltens hinweist.»
Unterstützung von ÖKK
«Im Herbst 2020 begann ich in einer Klinik eine stationäre Therapie. Ich spazierte viel, besuchte Sprechstunden, Mal- und Musiktherapien und erhielt eine Einführung in Achtsamkeit und Selbstfürsorge. Nach vier Nächten konnte ich durchschlafen, nach anderthalb Wochen waren die Rückenschmerzen, die mich 15 Jahre lang geplagt hatten, weg. Nach sechs Wochen kehrte ich heim. Zu Hause setzte ich um, was ich mir in der Klinik vorgenommen hatte: Ich bereitete Mahlzeiten für mich zu – etwas vollkommen Neues für mich –, trank weniger Espressi und reservierte in meiner Agenda fix Zeit für mich. Ausserdem kündigte ich zahlreiche Ehrenämter.
Kurz nach meiner Heimkehr erhielt ich einen Anruf von ÖKK, der Taggeldversicherung meiner Firma. Man bot mir ein Case Management an, das ich dankend annahm. Markus Ammann, mein Case Manager, stand mir fortan zur Seite. Ganz besonders schätzte ich seine moralische Unterstützung. Ich hätte am liebsten so bald als möglich wieder Vollgas gegeben. Markus Ammann aber sagte: ‹Herr Rykart, das Schlimmste, was jetzt passieren kann, ist ein Rückfall. Lassen Sie sich auf dem Weg zurück ins Büro Zeit, wir sind für Sie da.› Also gestalteten wir gemeinsam meinen Wiedereinstieg. Ich startete mit sporadischen Besuchen im Büro und stockte mein Pensum kontinuierlich auf. Dass ich heute voll arbeitsfähig bin, habe ich auch Herrn Ammann von ÖKK zu verdanken.»
Alarmglocken hören
Wer ein Burnout bewältigt hat, wird nicht automatisch zu einem anderen Menschen. «Er darf wie zuvor für seinen Job brennen und um 6 Uhr in der Früh im Büro sein», sagt Dr. Henrik Berthel. Was den Unterschied macht, ist ein neues Bewusstsein und mehr Achtsamkeit sich selbst gegenüber: «Mein Burnout hat mich gelehrt, Prioritäten zu setzen und mein Leben anders zu gestalten – mit weniger ‹Work› und mehr ‹Life›. Natürlich trinke ich an manchen Tagen immer noch zu viel Espressi und arbeite zu viel. Doch im Unterschied zu früher beginnen dann die Alarmglocken zu läuten – und vor allem: Ich höre sie.»