Das Renntrikot liegt bereit, das Mountainbike ist justiert, das Wohnmobil gepackt. Familie Hutter aus Trimmis ist bereit für die Mountainbike-Rennsaison 2020. Doch bereits seit Wochen vereitelt die Coronapandemie ein Rennen nach dem anderen. Gesundheit geht vor. Das finden auch die veloverrückten Hutters, und das weiss auch die 15-jährige Anina. Für die amtierende U15-Europameisterin ist die Situation am schwierigsten. Was hat sie nicht geschwitzt und trainiert im Winter und Frühling! Erst auf Langlaufski und Hometrainer, später auf dem Rennvelo und Mountainbike. Schliesslich wusste sie, dass diese Saison hart werden würde, denn in der Kategorie U17 müsste sie sich heuer mit vielen älteren Konkurrentinnen messen. Doch härter als jedes Rennen ist für sie die Ungewissheit, wann und ob die Rennserie überhaupt losgeht.
Intervalltraining am Hausberg
6,2 Millionen Velos gibt es in der Schweiz, acht davon gehören den Hutters, drei allein Anina. Sie setzt Helm und Brille auf, füllt ihre pinkfarbene Trinkflasche und schwingt sich auf ihr neongelbes Trainingsmountainbike, ein Duplikat ihres Rennbikes. Ein Intervalltraining steht auf dem Programm. Erst die Kondition: Anina spurtet auf einem Asphaltweg ihren Hausberg, den Quart, hinauf; 150 Höhenmeter in sieben Minuten. Dann die Technik: Die Ellbogen angewinkelt, den Oberkörper zentral über dem Velo und das Gesäss weit über dem Sattel, stürzt sich Anina in einem erschreckenden Tempo einen Waldpfad hinunter. Jede Unebenheit, jede Kurve, jede Wurzel kennt sie hier. Sie hoppelt, rutscht, fliegt – und am Ende des Trails steht sie regungslos, ohne die Füsse von den Pedalen zu nehmen, in perfekter Balance. Der Atem rast, der Körper und das Velo: Sie ruhen. Dann setzt Anina unvermittelt zur nächsten Runde an.
Eine Velotour mit Folgen
Anina Hutter ist Spitzensportlerin. Ihr Training folgt einem klaren Plan: Dienstag Intervalltraining, Mittwoch Grundlagenausdauer, Donnerstag Techniktraining, Freitag (normalerweise) Anreise zum Rennen mit lockerem Training und Streckenbesichtigung, Samstag (normalerweise) Rennen, Sonntag leichte Velotour mit der Familie, Montag Ruhetag. Über 4’000 Kilometer sitzt sie jährlich auf dem Sattel. Viel Zeit für andere Hobbys oder Freunde bleibt da nicht. Ihre beste Freundin ist ebenfalls Mountainbike-Rennfahrerin. Extra abmachen müssen sie nicht, man sieht sich an den Rennen. Und ein Schatz? «Ist mein Velo», sagt Anina.
Aninas Liebe zum Velo ist früh erwacht. Ihr Vater, Ivo Hutter, erzählt von einer Velotour, da war Anina gerade drei Jahre alt und sass auf einem Schattenvelo, das mit einer Stange am Mountainbike ihres Vaters fixiert war. Aus Spass frötzelte ein Velofahrer, der sie überholte: «Du hast es aber gut dahinten, du musst nicht strampeln.» Zu Hause angekommen, war die kleine Anina stinksauer. Nie mehr wollte sie hinten sitzen, und nie mehr wollte sie nicht strampeln. Von da an fuhr sie selber – und meistens voran. Mit sieben Jahren bestritt sie ihr erstes Rennen, mit zwölf startete sie erstmals am Swiss Bike Cup – und gewann.
Das Leben im Rennzirkus
Die Rennen vermisst nicht nur Anina. «Diese Wochenenden sind unser gemeinsames Hobby», sagt ihre Mutter, Nicole Hutter. Jedes Familienmitglied hat eine Aufgabe: Anina ist Rennfahrerin, Papa Hutter Mechaniker und Fotograf, Mama Hutter Köchin, Masseurin und Fan in der Startzone (das ist Papa Hutter zu nervenaufreibend), und Bruder Livio sorgt mit frischen Trinkflaschen und einem feuerroten Krachmacher für Unterstützung am Streckenrand. Vor drei Jahren haben sich die Hutters ein Wohnmobil gekauft. Seitdem leben sie rund 20 Wochenenden pro Jahr auf Renngeländen treffen an unterschiedlichsten Orten die immer gleichen Menschen, bilden mit befreundeten Familien eine Wagenburg, spielen Karten; am Samstag wird nach dem Rennen oft gemeinsam grilliert, am Sonntag schaut man die Rennen der Profis und unternimmt eine kleine Velotour. «Das ist eine andere Welt, die uns allen guttut», sagt Ivo Hutter, der von Montag bis Freitag Leiter Rollmaterial bei der Rhätischen Bahn ist.
Und die Schule?
Heute ist Anina eine der besten Nachwuchsbikerinnen der Schweiz. Ihren grössten Erfolg feierte sie, als sie 2019 im italienischen Pila mit grossem Vorsprung U15-Europameisterin wurde. Ihre Stärken? «Sie ist rennstark, kann also an Rennen ihre Topleistung abrufen», sagt ihr Vater. «Sie kann sich quälen», sagt ihre Mutter nicht ohne Befremden. «Sie hat gute Gene und ist physisch stark», sagt Martin Gujan, Nationaltrainer U17 und U19 bei Swiss Cycling. Aninas Traum ist es, später Mountainbikeprofi zu werden, so wie ihr Vorbild Nino Schurter, der wie sie für den VC Surselva startet. Um darauf hinarbeiten zu können, besucht sie die «Talentklassen Chur». In dieser Spezialschule erhalten Bündner Nachwuchssportler und -künstler die nötigen Freiheiten, um ihre Leidenschaft und die Schule unter einen Hut zu bringen. Anina gelingt das dank ihrer Disziplin gut.
Bisher unfallfrei
Am Hausberg Quart dreht Anina mittlerweile die dritte Runde, springt über eine Böschung und fährt, ohne zu bremsen, weiter. Glücklicherweise hat sie sich beim Biken noch nie verletzt. «Ich bin keine Draufgängerin, sondern kalkuliere das Risiko, trage immer einen Helm und kontrolliere vor der Fahrt die Ausrüstung», sagt sie. Das macht nicht jeder Biker: 9’000 Unfälle registriert die SUVA jedes Jahr unter Mountainbikern, Tendenz steigend. Als Aninas Mutter am Quart erscheint, um ihre Tochter zum Abendessen abzuholen, ist diese schon an ihr vorbeigeflitzt und kurze Zeit später zu Hause. Ihre Mutter kennt das von Velotouren. Die Familie bricht gemeinsam auf, doch irgendwann ist Anina einfach verschwunden, auf und davon. Sie ist immer als Erste zu Hause.
Experteninterview mit Hans Harnisch, Nachwuchsverantwortlicher bei Swiss Cycling
Warum ist Velo fahren gesund?
Dank des zyklischen Bewegungsablaufs eignet sich das Velofahren hervorragend, um die Ausdauer zu trainieren. Wer regelmässig in die Pedale tritt, stärkt Herz, Muskeln und Lunge, hellt die Stimmung auf und verbrennt bei einem Tempo von 15 Stundenkilometern rund 400 Kilokalorien pro Stunde. Dabei schont das Velofahren die Gelenke – auf die Kniegelenke beispielsweise wirkt im Vergleich zum Joggen nicht einmal ein Fünftel der Kräfte. Allerdings sollte man dafür nicht zu hohe Gänge fahren.
Also hol ich jetzt mein Velo aus dem Keller und strample über den Kunkelspass …
Lieber nicht! Anfänger und Wiedereinsteiger nehmen sich oft zu viel vor. Dabei ist Regelmässigkeit viel wichtiger. Eine halbe Stunde täglich bei moderatem Tempo wirkt sich positiv auf das Herz- Kreislauf-System aus und hilft, dass die Pfunde langfristig purzeln und sich die Fahrsicherheit stetig verbessert.
Was müssen Kinder oder Jugendliche beachten, die Biken als Spitzensport betreiben?
Grundsätzlich ist Biken auch als Spitzensport gesund. Wichtig ist, dass das Umfeld stimmt und an der Betreuung Fachleute beteiligt sind. Diese müssen die individuellen Fähigkeiten des Sportlers beachten und die Trainings und Wettkämpfe dessen Alter anpassen. Der Sport sollte trotz Leistungsstreben vor allem Spass machen.
Warum ist speziell das Mountainbiken so beliebt in der Schweiz?
Bei unseren Bergen ist es nicht verwunderlich, dass das Mountainbike hierzulande eine Erfolgsgeschichte geworden ist. Hinzu kommt das gut ausgebaute Netz von Velowegen und Biketrails. Und schliesslich hat auch die Entwicklung in der Velotechnik die Hürden für Mountainbikeanfänger extrem gesenkt: mit immer kleineren Übersetzungen, Leichtbauweise und Elektromotoren. Mountainbiken ist heute Volkssport.
Hans Harnisch
Hans Harnisch ist Nachwuchsverantwortlicher bei Swiss Cycling, dem Verband für Radsport in der Schweiz.